Vergebung und Heilung

„Sie predigen die Vergebung als einen Weg zur Heilung und scheinen nicht zu wissen, daß dieser Weg eine Falle ist, in der sie sich selbst befinden. Noch nie hat nämlich die Vergebung eine Heilung bewirkt.“
Alice Miller, Die Revolte des Körpers

Im Innen wie im Außen treffen wir immer wieder auf das Thema „Verzeihen“. Oft wird Verzeihung geradezu als das Allheilmittel für körperliche und seelische Leiden angepriesen.
Bei uns ging es früher sowieso einseitigerweise immer nur darum den Tätern alles zu verzeihen und uns selbst nichts. Von klein auf haben wir im Kultsystem gelernt, wie wichtig Vergebung ist. Wie wichtig es ist den Hintergrund und die schwierige Geschichte der Täter zu sehen und dass sie uns eigentlich doch nur Gutes wollen, mit dem was sie tun. Für uns selbst galt das selbstverständlich nicht. Wir waren die Schuld pur. Dass Missbrauch, Vergewaltigung und Folter nicht gut sein können für ein Kind und es daran überhaupt nichts Positives gibt, ist eigentlich klar. Doch selbst das wurde uns als eine Notwendigkeit mit positiver Wirkung auf uns verkauft. Worauf also wütend sein!?
Wir haben uns unser ganzes Leben lang verboten überhaupt so etwas wie Wut und Hass auf die Täter und Täterinnen zu fühlen. Wir hatten Angst und Panik davor. Denn wer wütend ist oder hasst, der ist ein schlechter Mensch, der ist es nicht wert geliebt zu werden und der macht sich selbst schuldig. Zusätzliche Schuld zu der Schuld, die wir ohnehin schon durch unser bloßes Sein auf uns geladen haben, konnten wir uns nicht leisten und nicht ertragen. Das war lebensgefährlich. So wurde es uns beigebracht. Die andauernden Wahrnehmungsverdrehungen haben tief in uns gefruchtet. Wir fürchteten die Strafen, wenn wir derartige Emotionen zeigten und verdrängten Wut und Hass aus unserem Leben.
Abgesehen davon wollten wir ja nicht so sein wie die Täter.
Zudem zählen Wut, Ärger und Hass ohnehin nicht zu den gesellschaftlich akzeptierten Emotionen.
Statt wütend zu sein, dass uns bestimmte Menschen das angetan haben, haben wir versucht alles zu verzeihen und uns nicht so an den Erinnerungen und Emotionen, die in uns waren, „aufzuhängen“. Und wieder wuchs unsere Schuld und unsere Unfähigkeit, weil es so einfach nicht klappen wollte. Wir konnten einfach nicht loslassen. Phasenweise klappte die Verdrängung, nach einiger Zeit kamen diese Gefühle allerdings immer wie ein Boomerang wieder. Als wir irgendwann auch noch körperlich krank wurden sahen wir die Ursache für die Erkrankung natürlich darin, dass wir einfach nicht verzeihen und loslassen konnten und gaben uns auch dafür die Schuld.
Dann kam unsere aller beste Freundin und hat unser Denken mal eben komplett auf den Kopf gestellt. Sie besitzt die wunderbare Fähigkeit so richtig wütend zu sein und zu hassen. Sie zeigte uns etwas von ihren Emotionen. Und sie sagte uns ganz offen, dass wir ihrer Meinung nach nicht krank sind, weil wir so schuldig sind oder nicht loslassen können, sondern weil wir uns einfach nicht zuhören. Weil wir uns die Gewalt, was sie mit uns macht und was wir dazu fühlen nicht eingestehen, sondern bagatellisieren und uns selbst damit verdrängen.
Etwas heilsameres hätte uns nicht passieren können!
Was sie sagte, machte zuerst Panik in uns. Ganz vorsichtig versuchen wir uns diese Gefühle aber seitdem wieder zu erlauben und uns anzunähern. Weil wir spüren, dass sie recht hat. Wir sind nicht krank, weil wir schuldig sind und nicht verzeihen, sondern weil wir uns nicht erlauben uns zu spüren. Weil der Verstand den Körper und die Seele negiert, die ihre Wahrheit kennen. Den ganzen Ärger, den Hass, die Wut, die Traurigkeit, die Enttäuschung, die Verzweiflung…

„Erst wenn du verzeihst, bist du wirklich frei.“
Das haben wir so oft gehört.
Diese „Verzeihensbewegung“ empfinden wir als täterorientierte Kleinhaltestrategie, die freie, persönliche Entwicklung verhindert. Wie soll sich jemand frei entwickeln, wenn er sich nicht mehr spüren kann und darf, weil es moralisch verwerflich ist!?
Mittlerweile sind wir für uns zu der Überzeugung gelangt, dass die obige Aussage schlicht und ergreifend nicht stimmt. Für uns heißt das richtig. „Erst wenn du dir erlaubst dich wirklich zu fühlen, bist du frei.“ Dazu gehört auch den Hass und die Wut anzunehmen. Das ist völlig in Ordnung. Ich bin auch mit diesen Gefühlen völlig in Ordnung. Und ich stelle fest, dass ich mich wesentlich besser fühle, körperlich und seelisch, wenn mir das gelingt. Wenn alles einfach da sein darf. Dann fühle ich mich wirklich frei und erleichtert, weil meine Emotionen und damit ich nicht mehr von der Bewertung anderer abhängig sind und eine riesige Anstrengung von mir abfällt, nämlich die mich/uns selbst wegzumachen. Die gesparte Energie können wir dann zum Heilen verwenden. Dann können wir einfach ganz bei uns sein. Meiner/Unserer Wahrheit vertrauen.
Vielleicht weiß mein Verstand nicht, warum ich auf etwas so emotional reagiere und kann es nicht erklären, aber mein Körper und meine Seele kennen den Grund.

Vergebung kommt vielleicht irgendwann, vielleicht aber auch nie. Wenn, dann kommt sie von selbst, wenn all die anderen Emotionen gelebt werden konnten und keine Sekunde früher.
Eines weiß ich sicher: Krampfhaftes verzeihen und loslassen wollen macht krank, weil es krampfhaftes Gefühleverdrängen ist. Entweder es passiert oder es ist nicht die Zeit dafür.

Ich darf hassen. Ich darf wütend sein. Ich darf mich ärgern. Ich darf nachtragend sein. Ich darf anderen die Schuld geben.
Und ich darf das auch ausdrücken.
So lange und so oft ich will. So lange ich das einfach so fühle.
Und dadurch wird mir nichts passieren. Ich bin dadurch kein schlechter Mensch und ich werde deswegen nicht in ewiger Verdammnis irgendwo untergehen.
Im Gegenteil: Ich heile!
Ich muss nicht verzeihen und nichts entschuldigen. Ich darf mich spüren und damit einfach glücklich werden. 🙂

12 Kommentare zu “Vergebung und Heilung

  1. „Vergebung kommt vielleicht irgendwann, vielleicht aber auch nie. Wenn, dann kommt sie von selbst, wenn all die anderen Emotionen gelebt werden konnten und keine Sekunde früher.
    Eines weiß ich sicher: Krampfhaftes verzeihen und loslassen wollen macht krank, weil es krampfhaftes Gefühleverdrängen ist. Entweder es passiert oder es ist nicht die Zeit dafür.“

    So sieht unsereins das auch!

  2. ich hätte am liebsten fünf mal auf den gefällt mir-button gedrückt. ja! ja! ja! genau so sehe ich das auch. 🙂 verzeihen passiert, wenn alles andere auch passieren durfte. man kann es nicht ‚tun‘. wenn es dann kommt, ist es das ergebnis eines sich vollständigen erlaubens von allem was in einem gefühlt wird. so habe ich es erfahren.
    ich freue mich mit dir über dein erkennen! 🙂

  3. Vergebung gabs als ich klein war sozusagen vorauseilend, irgendwo um es bei denen weiter aushaltenen zu können. Habs versucht mir zu erklären, Entschuldigungen für die gesucht und gemeint gefunden zu haben. Es ging aber um nichts anderes für mich als irgendeinen Weg zu finden damit was da geschehen ist leben zu können und nicht schon damals dran zu krepieren.

    Diese Entschuldigungen und Verzeihungsversuche habe ich mir lange Zeit immer wieder vorgebetet, besonders in Scheißzeiten mit Wut auf mich das ich das nicht einfach ablegen und liegenlassen kann.

    Irgendwann gabs inneren Aufstand dagegen es zu verzeihen, es gut sein zu lassen. Täterkontakt wurde von heute auf morgen abgebrochen, die Selbstbeweihräucherung der Täter wieviel Gutes sie für uns getan haben und das sie immer unser Bestes wollten wurde unerträglich. Früher als wir noch brav waren stimmten wir in diesen Chor mit ein und wunderten uns danach das wir in unser Spiegelbild kotzen mussten.

    Ich bin froh das so klar für mich zu haben, ich werde denen nicht verzeihen können, mir selber vielleicht, dass weiß ich nicht. Es fühlt sich einfach entsetzlich an.
    Ich bilde mir ein ein relativ großes Herz zu haben, aber es gibt viele Dinge die nicht zu verzeihen sind.

    l.g. sternenstaub

  4. Hallo! Ich bin Christopher ich bin ein 14jähriger Junge hier im System. Ich war in einen der Täter von damals (lange her) verliebt. Er war damals glaube ich 16. Ich habe ihm alles verziehen. Ich glaubte bis vor wenigen Tagen noch, dass ich ihn „liebe“ – wobei mir da schon klar war, dass sowas keine echte Liebe sein kann. Aber ich bin erst 14, wie soll ich wissen, was Liebe ist?? Na jedenfalls war mir schon klar (also jetzt wo der Körper erwachsen ist und wir von den Tätern weg sind und sicher sind) dass ich wütend auf ihn und das was er mir angetan hat sein müsste, um drüber wegkommen zu können. War schwierig. Aber es ist halt wichtig. Und hat auch geklappt (habe gute Unterstützung hier im System die anderen sind z.T. viel weiter als ich). Also ich war dann auch auf einem Konzert wo sehr emotionale und z.T. auch wütende Musik gespielt wurde und ich glaube das hat mir sehr viel gegeben. Habe da viel nachgedacht und es hat sich was in mir bewegt. Und ich kann jetzt stolz von mir behaupten: Ich bin wütend! Ich bin nicht mehr verliebt. Ich will nix mehr von dem Typen!
    – Christopher

    Die andere Seite des Verzeihens ist ja das Sich-Entschultigen. Und dazu gehören drei Schritte:
    1. Eingestehen, was mensch falsch gemacht hat und wie das der anderen Person(en) geschadet und sie verletzt hat. Die Gefühle und Wahrnehmung und Definition der verletzten/geschädigten Person(en) ernst nehmen und nicht etwa kleinreden, leugnen, zum Schweigen bringen oder ignorieren.
    2. Um Verzeihung bitten. Das kann aber nur eine Bitte sein und nie eine Forderung. Akzeptieren, dass mensch kein Anrecht auf Verzeihung hat.
    3. Wiedergutmachung. Sofern gewollt/möglich die angerichteten Schäden reparieren oder ausgleichen. Das kann u.U. auch symbolisch oder stellvertretend sein (in dem z.B. ein „guter Zweck“ unterstützt wird) oder auch ganz direkt (wenn ich etwas kaputt mache, dann kaufe ich der Person das neu). Dabei auf die Wünsche der Betroffenen Person achten. (Ich würde z.B. von den Täter_innen von damals nichts annehmen wollen und wenn sie es mir aufzudrängen versuchten, wäre das eine krasse Grenzverletzung)

    In unserem Fall (und bestimmt auch bei vielen anderen) haben die Täter_innen von damals NICHTS dergleichen getan! Im Gegenteil! Sie haben von jedem dieser Schritte das genaue Gegenteil getan: Alles geleugnet, uns zum Schweigen gebracht, uns die Gefühle und Erinnerungen/Wahrnehmungen abgesprochen, sich selbst als Opfer dargestellt, uns beleidigt und ausgestoßen, Forderungen an uns gestellt und so weiter. Also dass die keine Verzeihung „verdient“ haben, ist total klar.

    Wobei ich nicht sagen will, dass Verzeihung von diesen Schritten abhängt – weder in die eine Richtung noch in die andere. Ich kann manchmal wem verzeihen, obwohl die Person sich nicht entschuldigt hat und ich muss niemals verzeihen, selbst wenn die Person sich noch so sehr darum bemüht und die oben genannten Schritte befolgt. Da finde ich eure Beschreibung sehr gut, dass es darauf ankommt, die eigenen Gefühle nicht wegzumachen oder eben auch keine Gefühle wie Verzeihung o.ä. „herstellen“ zu wollen.

  5. Sorry, noch was vergessen. Zur richtigen Entschuldigung gehört auch, dass mensch Verantwortung übernimmt (was denke ich in den genannten Punkten enthalten ist, aber ich wollte es nochmal deutlich sagen) und vor allem alles tut was mensch kann, damit sowas nicht nochmal vorkommt! Sich immer wieder entschuldigen und dann doch wieder das gleiche oder ähnliches tun/zulassen zählt eben auch nicht…

    • Danke dir/euch für’s Teilhaben lassen an euerer Sichtweise! 😊

      Dein Weg ist sehr mutig, Christopher! Es verlangt einiges ab, sich darauf einzulassen. Unser Respekt! 😊

      Eine Entschuldigung oder Wiedergutmachung werden wir wohl auch nie bekommen. Es stimmt, dass dieser Schritt wohl von der anderen Seite aus erst mal nötig wäre, dass wir, was diese Typen betrifft,überhaupt darüber nachdenken könnten zu verzeihen.
      Wir werden das, was ihr geschrieben habt, mal auf uns wirken lassen. Da ist einiges dabei, worüber wir so noch nicht nachgedacht haben. Danke für den Anstoß! 😊

      Liebe Grüße
      Und alles Gute euch!
      Die bunten Schmetterlinge 😊

  6. Danke Sofie und Meeresbande.
    Ihr habt so recht!
    Und doch macht es so eine riesen Panik diese Wut zuzulassen, als würde ich sterben, wenn diese rauskämme! Und eine Panik davor, dass ich durch diese Wut zu dem werde, was ich so verabscheue, selbst ein Täter werde, wenn ich nur diese Wut erlaube. Sie würde so eskalieren, sie würde alles zerstören! Auch mich/uns zerstören! Und Hass? Das spüre ich einfach nicht, da bin ich in der Tat mehr in dem eingeimpftem Gefühl, diese Folter und Gewalt tatsächlich zu brauchen. Wie schrecklich das ist, das ist echt der Hammer!
    Ja verzeihen und vergeben geht sicher erst, wenn diese 4 Punkte inklusive der Verantwortung Übernahme geschehen würden, die die Meeresbande erwähnen.
    Ach diese „Liebe“ die Christopher beschreibt, kennen wir zu gut in unserem System! Vom weitem betrachte ist es echt abartig und grausam, aber es war für uns wohl so wichtig, um ertragen zu können was wir erlebten…
    Nochmals danke für eure Sichtweise. Wir sind schon so oft an diesem Thema dran gewesen und drehten uns nur im Kreis, weil es wie ein Zwang ist, verzeihen zu müssen und Ausreden für das Handeln der Täter zu suchen, ihnen die Erlaubnis zu geben tun zu dürfen, was sie taten, tiefstes Mitgefühl und Mitleid mit ihnen zu haben, weil ihnen eventuell so viel Schlimmes angetan wurde. Echt widerlich!

    Sofie, ich möchte dies unbedingt rebloggen! Ich bin jetzt einfach mal so frech und warte nicht auf deine Erlaubnis dafür.
    Mein tiefster Dank ❤

    • Klaro ist das bei dir Ok! So frech darfst du gerne sein. 😉

      Wütend zu sein heißt nicht wie die Täter zu sein. Es ist lediglich ein starkes Wahrnehmen seiner Grenzen und eine dementsprechende Reaktion auf eine Grenzverletzung. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich finde auch, dass Täter bei den Gewalttaten nicht wirklich wütend sind. Sie sind vielleicht aus irgendwelchen undefinierbaren Gründen in Rage, aber ich fühle das nicht als Wut im eigentlichen Sinne. Eher als sadistischen Machtimpuls. Täterwut fühlt sich für mich viel kälter an. Sie ist nur Mittel zum Zweck und irgendwie auch unecht. Wirkliche Wut ist für mich wärmer und hat etwas sehr liebevolles und fürsorgliches.

      Liebe Grüße,
      Sofie 😊

  7. Pingback: Vergeben und Losslassen | Vergissmeinnicht

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