Ich hänge fest.
In einer Welt voller Gedanken.
In einem Zwischenraum.
Irgendwo mitten in der Abrichtung von einst.
Im Milieu der Todespanik und Menschenverachtung.
Mein Zeigefinger scrollt durch alte E-Mails an eine Therapeutin, die wir wohl nie vergessen werden. Dort konnten wir sein.
Dann reiße ich mich los und mache mich auf in Richtung meiner alten Heimat.
Unterlagen von einer Bekannten abholen, etwas plaudern.
Die Kilometer schwinden unter meinem flitzenden Auto dahin bis zum Ziel.
Aus jedem gefahrenen Wegmeter werden Steine für eine Mauer.
Aus Watte und Nebel.
Dissoziation.
Je näher wir unserer alten Umgebung kommen, desto weniger spüre ich mich. Der Kontakt nach innen wird immer schwieriger. Ich beobachte mit Verwunderung die Wandlung, die sich in mir vollzieht.
Diesmal bemerke ich sie.
Irgendwann kurz vor der Ankunft findet der komplette Cut statt. Ich höre nichts mehr von den Stimmen der Vielen in mir, denen ich in neuer Umgebung so nah kommen durfte. Ich bin alleine.
Der Tag nimmt seinen Lauf.
Am Abend bin ich wieder zurück in unserem neuen zu Hause.
Meine Katzen begrüßen mich schnurrend.
Es war anstrengend.
Als die Wohnungstür hinter mir ins Schloss fällt, fällt die Anspannung ab.
Ich beginne meine Eindrücke aufzuschreiben, um wieder bei mir selbst anzukommen. Stück für Stück schwinden die Schleier. Im Innen wird ein vorsichtiges Regen wahrnehmbar. Zarte Stimmen.
Erleichterung.
Was sagt mir das?
Was bedeutet das für uns?
Als ich vor vielen Jahren aus meinem Elternhaus floh und eine eigene Wohnung etwa eine halbe Stunde entfernt bezog, wusste ich, dass es schwierig werden würde, äußere Ruhe von Täterseite herzustellen. Es gelang irgendwann mit viel Mühe und Hilfe die Zugriffe und Übergriffe auf mich zu beenden. Ich behauptete in der Therapie steif und fest, dass ein Ortswechsel nicht nötig und gewünscht sei. Damit könne ich umgehen. Schließlich gehe es ja um die Vorfälle die passiert sind. Die Region sei da Nebensache. Das dachte ich damals wirklich. Ich spürte auch nicht, dass es irgendwie ein Problem war, noch so nah zu sein. Ich konnte mich in dem Ort in dem ich aufwuchs bewegen und völlig ausblenden, dass unweit Täter wohnen. Ich war mir sicher, dass ich eine der wenigen Menschen mit einer derartigen Geschichte sein werde, bei denen ein Umzug in eine weit entfernte Stadt nicht notwendig ist.
Nun kam es aus anderen Gründen dennoch dazu und ich bemerke zum ersten Mal, wie viel das in mir macht. Zu wie vielen Dingen in mir ich plötzlich Zugang bekomme, je länger ich vom alten Wohnort weg bin. Wie mein Innen in der Beratung Gesprächsbereit wird und mutig langsam seine Mauern abbaut. Wie ich mich plötzlich an Dinge erinnern kann, die so verborgen waren und nun ganz klar vor mir liegen.
Und ich merke auf den Fahrten, die mich derzeit noch hin und wieder zurück in die alte Region führen, wie verdammt dissoziativ ich sein muss, dass ich die Umgebung auch nur ansatzweise ertrage. Mein gesamtes Persönlichkeitssystem verändert sich in den Stunden der Fahrzeit zurück in die Horrorzone. Ich fange an immer weniger ich zu sein und immer mehr die Hülle, die die Täter von mir verlangen.
Bis ich mich zurückverwandle. Auf dem Heimweg.
Zu einem Menschen in dem viele Lebensretter wohnen und aufatmen.
Es wird noch ein paar Tage dauern, bis das Gefühl der Sicherheit wieder durchsickern kann.
Manchmal bemerkt man ein Problem erst dann, wenn es eine Lösung gibt. Bis dahin weiß man ja gar nicht, dass es anders laufen könnte. Man blendet Probleme aus, um sich Boden unter den Füßen vorzugaukeln. Wenn der Boden dann wirklich da ist, erkennt man den Abgrund hinter sich.