Osterreisen

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Auf einem kleinen Boot saß sie. Es war aus altem Holz gemacht. Die grüne Farbe blätterte bereits an vielen Stellen ab. So wollten es die Gezeiten. Ihre Füße schwebten kurz über der Wasseroberfläche und in ihrem Haar webte ein Rosenkranz Geschichten von der fruchtbaren Welt. Ein feuriges rotes Kleid umhüllte zart energetisch fließend ihren Körper. Ihre Augen fühlten geschlossen der Weite um sie nach. Am Horizont dämmerte es orange leuchtend.
Mit ihrer Zehenspitze konnte sie fast die Spieglung derselben im Wasser berühren. Doch ein Lufthauch hielt die beiden getrennt. Sie wohnten in zwei Welten.
Das Wasser ruhte.
Die Welt um sie herum ruhte.
Sie selbst ruhte.
In sich.
Und über den Wogen erhaben.
Am Himmel zog ein Vogelschwarm.

In ihrem Herzen war Ostern.
Das war ein Umstand der sie in ihrer aufrechten Haltung bewegte. Um das Fest ganz zu erfahren hätte sie wohl in tiefe Wasser hinabsteigen müssen. Stattdessen aber tronte sie an der Oberfläche. Das Bot ließ sie atmen.
Im stillen blickte sie den Osterhasen nach und hörte dumpf das Glockenläuten der Blüten auf den Fluren. Der Wind brachte es ihr mit. An Board des kleinen Schiffchens fühlte sie sich sicher. Zwar war der Zufluchtsort nur nussschalengroß, doch bot er ihr alles, um das Seelenmeer stabil zu bereisen. Sie war allein inmitten von so vielem. Sachte Nebelschwaden ließen die Weiten im Außen verschwimmen. In ihrem Innen jedoch tönten goldglitzernde Lieder von Liebe und Fruchtbarkeit und dem Ende der Schrecken. Ihre Reise durch die Jahrhunderte endete im Jetzt.
Jetzt war sie nicht die gekreuzigte.
Jetzt war sie die Siegerin über den Tod.
Die rote Göttin.
Sie lebte.
Allen Ritualen zum Trotz.

Dann schlug sie die Augen auf.
Auf der Fensterbank winkten die Osterglocken. Im Nest waren bunte Eier sanft in Grün gebettet. Eisregen peitschte gegen das Fenster. Von der Balkontür wehte frischer Wind herein. Ihre Träume endeten.
„Hier für dich“, sagte das Innenkind und hielt ihr lächelnd ein Schokostückchen hin. „Hab ich vom Osterhasen.“
Milde lächelte sie zurück.
„Danke!“
Das Nussschalenboot wogte noch einmal sanft, als wollte es ihr versichern, dass sie jederzeit wieder einsteigen könne. In ihrem Mund schmolz derweil die süße Gabe.

„Frohe Ostern und eine sichere Nussschale!“ 🥚🐇🐣

8 Kommentare zu “Osterreisen

  1. Ist das toll geschrieben!!! – Ich habe schon mitten im Text gewusst, dass das Mädchen im Boot allein und doch nicht allein war/ist. Ich habe es aus Deinen Zeilen GEFÜHLT!

    Wundervoll.

    Hat Dich das Bild oben zu der Geschichte inspiriert? (Wo stammt es her?)

    Liebste Ostergrüße! ❤

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