Es ist schwülwarm, obwohl die Sonne bereits hinter den Wolken verschwunden ist. Mein Bauch ist angestrengt. Seit drei Tagen weiß ich nicht so recht, ob meine Darmentzündung einen neuen Schub ankündigt oder das wechselhafte Wetter mir zusetzt. Draußen im Garten leuchten die Hagebutten. Aus den lieblichen Rosen ist Juckpulver geworden. Auf der Bank vor dem Haus ruhe ich kurz aus. Ich bewundere die kleinen roten Farbkleckse.
Nebenbei blättere ich in einer Broschüre der BZgA über Essstörungen. In manchen Beschreibungen finde ich mich wieder. Über einen Satz stolpere ich jedoch besonders: „Essgestörte sind stark und mächtig. Zum Hungern gehört eine große Disziplin.“ Ich schwanke innerlich zwischen „Cool! Wir sind diszipliniert“ und „Was für ein Bullshit!“ Ein Kompromiss aus beiden Ansichten wäre dann wohl: „Wir betreiben diszipliniert Scheiße mit unserem Körper.“ Wer die Hosen in diesem Kampf an hat, ist für uns wesentlich weniger deutlich als für die BZgA. Wir essen oder hungern eher aus Ohn-Macht im Alltag und Kontrollverlust, als aus innerer Stärke. Immerhin bemühen wir uns beständig um normales Essverhalten. Je länger ich dem Zitat nachspüre, desto deutlicher fühle ich ein inneres Unbehagen. Ist das nicht genau das große Missverständnis, das Essstörungen ausmacht? Dicke sind dick, weil sie sich nicht genug im Griff haben und schlanke Menschen diszipliniert. Wir kennen in unserem Leben wohl alle Seiten des krankhaften Essverhaltens von der Magersucht bis hin zu stark übergewichtig. Keine dieser Erkrankungen entstand durch Disziplin und Stärke. Genau so wenig verschwand sie dadurch. Wenn sich psychische Erkrankungen durch den eigenen Willen lösen liesen, hätten wir längst keine Probleme mehr. Die Essstörungen waren statt dessen Zeichen grenzenloser Überforderung und Verzweiflung. Ein verbitterter Versuch über alle persönlichen Grenzen irgendwie weiter zu funktionieren, nur um nicht zu krepieren. Ein Notmechanismus von Körper und Seele. Wir entscheiden längst nicht mehr selbst, ob wir hungern oder essen. Auch in der Magersucht waren wir nicht diszipliniert. Wir konnten nicht anders. Die Angst diktierte die Nahrungsaufnahme. Die Essstörung gibt die Richtung vor und die wechselt sie nach ihren eigenen Gesetzen.
Ich schaue auf die kleine längliche Hagebutte. Wir kennen auch kugelrunde Sorten. Sie dürfen einfach sein wie sie sind und sind immer richtig.
Abslotute Zustimmung. Eine Erkrankung ist nun mnal genau das: Eine Krankheit! Und die lässt sich eben nicht mit Disziplin oder dem Willen lösen.
Wenn es so wäre, wären alle Therapeuten der Welt arbeitslos.
Natürlich muss man bei einer Erkrankung sich auch helfen lassen wollen.
Egal ob es ist, dass man sich einen Gips für ein gebrochenes Bein geben lässt oder sich in einer Therapie mit psychischen Problemen auseinander setzt.
Aber mit wollen allein ist es nicht getan.
Alles liebe und gute Besserung für euren Bauch. 🌸
Danke! 😊 Heute geht’s schon wieder ein bisschen besser.
Bei deinem Beispiel mit dem Gipsbein ist mir mal wieder aufgefallen, dass das bei einer körperlichen Erkrankung auch nicht in Frage gestellt werden würde.
Liebe Grüße,
Sofie
großartig. danke. es öffnet mir nochmal neu die augen…
Danke ebenfalls! 😊 Das freut uns.
Liebe Sofie,
bei dem Satz aus der Broschüre habe ich echt mit den Augen gerollt. Das ist ja totaler Blödsinn. Wenn ich gehungert habe, war genau das eines meiner Motive… Ich wollte mich stark fühlen und als ob ich Kontrolle hätte, weil ich mich eigentlich total schwach fühlte und das Gefühl hatte nichts in meinem Leben kontrollieren zu können. Aber es hat natürlich gar nichts mit Stärke und Disziplin zu tun, wenn man nichts mehr isst und es gibt einem auch nicht die ersehnte Kontrolle. Es ist für mich eher ein Zeichen von Kontrollverlust, denn wenn ich Kontrolle hätte und mich stark fühlen würde, würde ich nicht heulend vorm Essen sitzen, weil ich es nicht essen kann. Man zerstört sich selbst. Irgendwie macht mich der Satz auch ein bisschen wütend, weil er auch bei uns Reaktionen wie „Siehste, wenn wir nichts essen ist das viel besser und ein Ausdruck unserer Stärke.“ hervor ruft. Ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass dieser Satz für irgendjemanden, der unter Essstörungen leidet hilfreich ist….
Wir wünschen euch gute Besserung und alles Liebe 🙂
Bunte Sterne
Liebe Bunte Sterne,
ich frage mich vor allem auch immer mehr, was dieser Satz in den Händen von Angehörigen auslöst, die ja ohnehin oft Mühe haben die Betroffene nachzuvollziehen. Natürlich sollen sie ihr zutrauen zu heilen. Das hat für mich jedoch nichts mit dieser Aussage zu tun.
Deine Reaktion auf die Aussage kann ich so gut verstehen. Mir geht es ganz ähnlich. Ein bisschen ärgert es mich mittlerweile, dass man über diesen Satz das Verhalten der Betroffenen indirekt noch verstärkt.
Liebe Grüße und danke für die Genesungswünsche! ❤️😊