Mein Watte-Gefühl

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„Ich nenne es das Wattegefühl. Natürlich gibt es für dieses Gefühl, dass keines ist, sondern eher ein Zustand, auch einen Fachausdruck. Aber erstens tut der an dieser Stelle nichts zur Sache, zweitens ist er nicht hilfreich und drittens von Leuten erfunden, die etwas zu benennen hatten, das ihnen nicht aus eigener Erfahrung, sondern nur aus Berichten von Patienten bekannt war. Ich bleibe also bei meinem Begriff, bei dem, was ich mein Watte-Gefühl nenne.“
Susanne Preusker, Sieben Stunden im April, München 2013, S. 37

Manchmal schmökern wir mittlerweile durch den ein oder anderen Betroffenenbericht. Damals, als wir in der Therapie gerade erst begonnen hatten uns mit den eigenen Erlebensweisen auseinanderzusetzen, hatten wir oft Mühe sie überhaupt zu fassen und in Worte zu kleiden. Lesen war zu Beginn keine Option. Wir wollten unsere Wahrnehmung nicht durch eine fremde beeinflussen. Später fühlten sich all die Beschreibungen anderer oft so unpassend an und liesen uns an dem zweifeln, was wir für uns bereits herausgefunden haben. Dissoziation blieb ein abstrakter Begriff aus der Therapie, der viel zu erklären schien und dennoch ungreifbar fern wirkte. Im Grunde war er für uns genau so schwammig, wie der Umstand selbst, den er beschreibt.

„Watte-Gefühl“ ist wohl weniger fachlich, trifft aber einen Aspekt des Abspaltens sehr plastisch. Wobei wir hier anmerken möchten, dass es für uns bereits ein größerer Prozess war, bis wir die Watte wieder wahrnehmen konnten. Dieses fremde, unwirkliche Gefühl stand nicht am Anfang. Dort war das blanke Nichts platziert. Die Welt konnte gar nicht „wattig“, unwirklich oder fremd sein, weil es weder die Umgebung noch mich gab. Alles war einfach. Nichts betraf mich. Es gab kein gut oder schlecht. Ich war ein wandelndes Neutrum in einer bedeutungslosen Welt mit Lachfunktion. Als ich den Nebel um mich zum ersten Mal wahrnehmen konnte, war bereits viel Heilung passiert. Der Stress muss zunächst absinken, um Vergleichswerte zu bekommen. Plötzlich konnte ich bemerken, wenn es mich aus dem Körper zog oder sich unsichtbare Wände zwischen mir und der Welt verdichteten. Die Angst begann langsam wieder zu existieren, auch vor diesen Zuständen des absoluten Getrennt seins, die im Grunde die Angst selbst verkörperten. Selten verliere ich in der Watte meine Funktionsfähigkeit komplett. Meistens fühlt es sich eher so an, als wäre ich ferner Beobachter. Eine Möglichkeit einzugreifen gibt es nicht. Alles bewegt und redet sich durch mich hindurch. Selbst die Worte aus meinem Mund haben nichts mehr mit mir zu tun. Ich höre mich sprechen, aber der Bezug dazu fehlt.

Das obige Zitat hat mich aus verschiedenen Gründen besonders bewegt. Es sind die eigenen Worte einer Frau für ihr individuelles Erleben von Dissoziation. Auch wenn ich mich in dem Bild gut wiederfinde, hätte es doch sein können, dass niemand außer ihr selbst das so beschreiben würde. Dennoch ist das für Sie nunmal Fakt. Das hat für mich etwas mit Selbstvertrauen zu tun. Gerade bei so komplexen Sachverhalten, wie sie die Dissoziation darstellt, wird für meinen Geschmack zu oft nach Verallgemeinerungen gesucht. Dissoziation zu beschreiben bedeutet als Betroffene eine Wahrnehmung zu finden für etwas, das man nicht wahrnimmt. Wenn man es geschafft hat, gibt es für ein und den selben Oberbegriff tausend und eine Möglichkeit ihn individuell zu erleben.

Manchmal ist Dissoziation für mich auch „Zuckerwatte“. Sie versüßt mir unerträgliche Momente.

Ein Kommentar zu “Mein Watte-Gefühl

  1. Danke für diesen Beitrag… vor allem die Worte „weil es weder die Umgebung noch mich gab. Alles war einfach. Nichts betraf mich.“ lassen mich sehr nachdenken… nehme ich eigentlich meine Umgebung wahr? Ich bin ja sehr damit beschäftigt meinen Körper wahrzunehmen, „mich“, und die Spannung bzw. Entspannung… doch nehme ich eigentlich den Schrank an der Wand wahr? Die Blume mir gegenüber?… oh oh… das… äh… diese Fragen… und Gedanken… ein weites Feld… und ein kurzer Blitz: Ich glaube, ich nehme es nicht wahr…

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