Wenn ich eines nicht bin, dann ist das Überlebende.
„Aber du hast die Gewalt doch überlebt.“
Ja, das habe ich. Ich habe sie überlebt und gleichsam über alle Not einfach weiter gelebt, weil mir nichts anderes übrig blieb. Diese Tatsache ist deshalb allerdings noch lange nicht zu meiner Identität geworden. Gott sei Dank!
Wenn ich langfristig etwas möchte, dann ist das Leben. Stink normal. Einfach so. Ohne irgendwelche Aspekte meiner Geschichte zu übergehen oder über den Alltag einfach so drüberzuleben. Überleben suggeriert für mich ein einfach weiter machen, die lächelnde Maske weiter zu tragen, egal was passiert und nur nichts mehr von dem Schmerz zu erwähnen. Es ist das Wort, dass jeder viel lieber hören möchte, weil es doch einfach positiver, optimistischer, mächtiger und heiler klingt. Als Überlebende sind die Taten abgeschlossen und der Hilfsbedarf entsprechend gering. Als Überlebende schmeichelt ein strahlendes Wort über die verdammt beschissene Opferschaft hinweg. Überlebende schreit nach: „Lass die Vergangenheit ruhen, sie ist doch vorbei.“ Das ist sie nicht, noch nicht einmal dann, wenn ich ab sofort nur noch fröhlich glucksend durch den Tag renne. Denn selbst dann bleibt Gewalt ein Thema, das sich die Gesellschaft anschauen muss.
Eine Vergewaltigung überlebt zu haben, ist ein glücklicher Umstand. Das ändert nichts daran, dass es ein Opfer gab und dieses Opfer zukünftig mit Schwierigkeit zu kämpfen hat, die es vorher nicht hatte. Meist gehen nach dem überleben der eigentlichen Tat, die Probleme erst richtig los. Sie ist eben nicht vorbei, nur weil der Vergewaltiger nicht mehr real auf uns liegt. Wenn man es schafft von den massiven Folgen einer derartigen Tat zu heilen, ändert das nichts daran, dass das Leben ohne die Tat anders verlaufen wäre. Es gibt immer noch ein Opfer und immer noch einen oder mehrere Täter. Das sind geschaffene Fakten. Ich bin dafür sie auch so zu benennen. Für mich hat das nichts damit zu tun, mich nicht glücklich fühlen zu können oder am Opferstatus festhalten zu wollen. Es schafft lediglich eindeutige Realitäten, die stattgefunden haben. Wenn ich über die erlittene Gewalt spreche, bezeichne ich mich selbst also auch als Opfer, weil ich es schlicht war. Die Ohnmacht wird nicht weniger, nur weil ich sie nicht ausspreche.
Gewalt ist kein Frosch, den man sich schön küsst. Überleben hat nichts mit Lebendigkeit und echtem Leben zu tun. Es ist ein Notzustand, in dem man das Leben überlebt. Der Umstand ist nur gut maskiert.
Wir wollen leben, lachen lieben und echt sein – als Frau, als Opfer, als Künstlerin und Viele-Frau mit all ihren Facetten.
Ich kann bei vielen deiner Worte mitfühlen und bin so dankbar, dass das Thema Vergewaltigung von dir so offen angesprochen wird. Wie lang ich nach so etwas gesucht habe… Wir haben wohl den selben Begriff für die genauen Widersätze gewählt. Bei dir gilt das Überleben nach außen, das für die anderen sichtbare. Es steht für den Schein, damit alle anderen glücklich sind. Und wie macht man andere glücklicher, als es nicht mehr anzusprechen und ihnen das Gefühl zu geben darüber hinweg zu sein?
Bei mir steht Überlebende genau für das Gegenteil. Sobald ich es schaffe, das Vergangene als geschehen zu akzeptieren, bin ich eine von ihnen.
Überlebende bin ich für mich selbst. Denn dann lasse ich es ein Teil meines Lebens werden, indem ich mich damit auseinandersetze.
Ich kann deine Gedanken vollkommen verstehen und bin genauso dagegen, weiterzuleben wie zuvor, denn wir sind nicht mehr die Selben.
So unterschiedlich können die Empfindungen sein. 😊 Danke dir für die Erklärung, wie du auf dieses Wort schaust! Für dich steckt darin also die Anerkennung, dass überhaupt etwas sehr schwerwiegendes passiert ist, mit dem man sich beschäftigen muss. Eine Art das Verbrechen überhaupt Realität werden zu lassen. Richtig?
Ja, ganz genau😊 das hat mir selbst geholfen und vielleicht hilft es ja auch jemand anderem.
Da kann ich gut verstehen, dass du einen ganz anderen Bezug zum Thema „Überlebende“ hast. Ist im Endeffekt ja wirklich das genaue Gegenteil von meinem Empfinden. Spannend! Ich werde mal darüber nachdenken… 😊
Jeder geht anders damit um und deshalb habe ich mit meinem Blog auch begonnen. Von anderen hören und selbst erzählen😊
Lassen euch ein genau so ist es da, würden wir sofort unterschreiben, sind da ganz ähnlich gestrickt… Wie schön es wäre, wenn wir sagen könnten es ist vorbei, im aussen ist es das ja, aber im innen noch lange nicht, aber wir arbeiten dafür.. LG von uns
Danke euch für die Rückmeldung! 😊
Besonders schwierig finde ich es immer, wenn man von Helfer-Personen vorgeschlagen bekommt, eine andere Bezeichnung als Opfer zu finden.
Wir wünschen euch, dass es auch im Innen für euch einen guten Weg gibt, das Geschehene langfristig zu verarbeiten.
Gut, dass Du es so siehst, denn irgendwie bin ich Überlebende aber mir scheint auch eine Lebenslang-Verwundete. Ich habe in meinem Blog mal einen Beitrag zitiert (von einer berühmten Frau):
https://melinasschreibfamilieblog.wordpress.com/2018/01/31/die-seele-gibt-keine-ruh/
Essenz, wir sind solange Überlebender bis die Seele Ruh findet.
Danke dir für die liebe Rückmeldung und die Ergänzung um deinen Link! 😊
Ja, die Verwundung bleibt wohl leider sehr lange…
„Gewalt ist kein Frosch, den man sich schön küsst.“
Vielen Dank für diesen grandiosen Satz!
Freut uns, dass er dir gefällt!😊
Liebe Sofie,
sehr spannend das Thema. Ich tue mich insgesamt sehr schwer damit ein Bezeichung zu finden, die ich für mich selbst als stimmig erlebe.
Interessanterweise stehe ich dem Begriff „Überlebende“ aus einem ganz anderen Grund skeptisch gegenüber.
Ich finde „Überlebende“ klingt so heldenhaft, aber ich empfinde es so, dass ich gar keine Wahl hatte. Die Täter haben bestimmt wer überlebt und wer eben nicht. Ich konnte nur überleben, ob ich wollte oder nicht. So fühlt es sich jedenfalls für mich an. Das heißt natürlich nicht, dass ich nicht froh darüber bin nun die Chance zu haben mir ein besseres Leben zu erarbeiten und die guten Momente in meinem Leben nicht zu schätzen weiß. Ich kann es nur (noch?) nicht als Eigenleistung sehen überlebt zu haben.
Ich empfinde den Begriff auch ein wenig abwertend den Opfern gegenüber, die nicht überlebt haben. Denn sie waren nicht weniger stark oder „heldenhaft“ oder was auch immer, sondern sie hatten einfach Pech (mir fällt leider kein besseres Wort ein, auch wenn ich „Pech“ jetzt nicht so richtig passend finde)…
Da ich das für ein sehr sensibles Thema halte, möchte ich nochmal ausdrücklich darauf hinweisen, dass ich das für mich selbst so empfinde! Ich finde es überhaupt nicht schlimm, wenn jemand anderes sich als „Überlebende“ bezeichnet und das für sich als stimmig empfindet.
Liebe Grüße
Bunte Sterne
Liebe Bunte Sterne,
ich kann mir gut vorstellen, dass das ein komisches Gefühl macht. Wir empfinden es mittlerweile durchaus als eine Leistung überlebt zu haben. Schließlich hätten wir uns auch umbringen können oder unser Körper schlapp machen. Dennoch soll das natürlich keine Abwertung für die toten Opfer bedeuten. Da stimme ich dir zu.
Das mit dem „heldenhaft“ empfinde ich ähnlich, wenn ich deinen Zeilen so nachspüre. Habe ich vorher gar nicht darüber nachgedacht. Das Gefühl keine Wahl gehabt zu haben, schreckt uns vor diesem Begriff „Überlebende“ auch eher ab.
Danke dir, für deine ehrlichen Einblicke! 😊
Liebe Grüße und gute Nacht,
Sofie 😊
Liebe bunte Sterne, und liebe bunte Schmetterlinge,
Ich hoffe es ist für euch in Ordnung, wenn ich den Kommentar zum Beitrag und zu eurem Kommentar Bunte Sterne zusammenfasse. Ich denke, dass es gut in einem beschrieben werden kann. Bitte um euer Verständnis.
Ich kann das Gefühl keine Wahl gehabt zu haben in der Situation, oder auch in Zeiten völligem ausgeliefert Seins sehr gut nachvollziehen. Aber danach weiter zu leben, zu kämpfen, sich das Leben zurückholen oder erst holen zu wollen, das ist auf alle Fälle eine große Leistung. Das ist es für mich unbedingt. Allerdings möchte ich mich auch niemals über all jene erheben, die vielleicht zu wenig Kraft oder Hilfe hatten und nicht mehr kämpfen konnten. Vielmehr bin ich sehr dankbar dafür, wie ich meinen Weg zur Heilung gehen darf. Dankbar für meine Kraft und alle Hilfe und auch in einem Land zu leben, wo ich trotz aller Gewalt noch Chancen habe heilen zu können. Selbst wenn es uns oft sehr schwer gemacht wurde und wird. ….. Es ist sehr viel Arbeit aber auch viel Glück im großen Unglück dieser Vergewaltigungen in so jungen Jahren. …. Der Begriff „Überlebende“ ist mir auch unangenehm. Ich benenne es gerne beim Namen und dann bin ich „Gewaltopfer“. Das bleibe ich für mich auch, wenn ich geheilt bin, falls das je ganz geht. Für mich ist kein Widerspruch zwischen Opfer und stark sein. Schon um da ein Umdenken zu bewirken, dass Opfer nicht leidend herumhängen, sondern aktiv heilen können ist es für mich wert, mich als „Gewaltopfer“ (damit ist auch der Ursprung klar) zu bezeichnen.
Danke euch sehr für den inspirierenden Beitrag und Kommentare. 💖🙂🍀
Alles Liebe an Euch alle
Bunte Sterne und bunte Schmetterlinge
„Benita“
Danke dir für deine Gedanken! 😊
Bin grade irgendwie allgemein sprachlos und kann deshalb nicht so viel schreiben. Trotzdem wollen wir zumindest zurückmelden, dass uns dein Kommentar bewegt.
Liebe Grüße,
Sofie
Danke für deine Rückmeldung, liebe Sofie.
Herzlich
„Benita“
Widersprichst du dir nicht? Auf der einen Seite willst du ganz normal leben, wie jeder andere Mensch auch (was aber nur mit absoluter Ignoranz der Vergangenheit möglich wäre), auf der anderen Seite sagst du, Überlebende zu heißen bedeutet ein drüber wegbügeln über das, was war, und das willst du nicht…
Wieso ist normal Leben nur mit absoluter Ignoranz der Vergangenheit möglich? Das seh ich gar nicht so. Im Gegenteil. Solange ich mich leugnen würde, wäre Lebendigkeit wahrscheinlich gar nicht machbar. Ich kann sehr wohl wissen, was meine Vergangenheit ist, dazu stehen und trotzdem ein gesundes, glückliches Leben führen ohne ständig nur von den alten Traumata eingeholt zu werden. Machen wir ja teilweise auch jetzt schon…
Bei dem Begriff Überlebende geht es mir hauptsächlich darum, dass er für mein Empfinden zu wenig von der tatsächlichen Dramatik enthält und vortäuscht ein Opfer würde nach der Tat einfach weiterleben, ohne zu sehen, dass das mit echter Lebendigkeit bis lange in den Aufarbeitungsprozess hinein nichts zu tun hat. Ich empfinde ihn als eine Art Maske für das, was tatsächlich geschehen ist und ich erwarte vom Leben mehr, als nur zu Überleben.
Liebe Grüße,
Sofie