Von der Gefühllosigkeit des Unfassbaren

Im Leben nach dem Ausstieg aus organisierter und ritualisierter Gewalt gibt es sicher viele Gründe weshalb trotz verheerender Erinnerungen nach außen nur eine rationale Fassade tritt. Ganz vorne bei den Erklärungsansätzen sind beispielsweise die Auswirkungen der dissoziativen Spaltung. Heute wollen wir euch von einer Situation in der Therapie erzählen, die diese Taubheit von einem anderen Blickwinkel betrachtet.

Über Wochen waren wir mit unserer Therapeutin mit einer sehr grausamen Erinnerung beschäftigt. Sie enthielt viele Details, die für sich betrachtet eigentlich große Schmerzen hervorbringen müssten. Ich saß jedoch taub rational vor den Bildern im Kopf. Es ging mir zwar ganz und gar nicht gut damit, aber weinen konnte ich darüber nicht. Nichts wünschte ich mir mehr als erlösende Tränen. Ich hoffte auf diesem Weg zumindest einen Teil der zeitweise unaushaltbaren Spannung im Inneren nach Außen bringen zu können. Verzweifelt wartete ich auf das Fließen der Emotionen. Doch in uns schien sich eine Blockade breit zu machen, die sich nicht lösen lassen wollte, ganz gleich von welcher Seite wir uns annäherten. Es gab eine Ebene im Innen, da konnte ich ganz entfernt unendliche Trauer wahrnehmen. Immer wenn ich versuchte ihr Raum zu geben, verschwand sie im Nichts. Ich starrte auf meine Erinnerungen und fühlte nicht mehr als gefühllose Verwirrung. Darüber zu sprechen war möglich, aber die Taubheit lag über jedem einzelnen Wort. Es war als würde mir mein Verstand jedes mal erneut zuflüstern: „Das ist zu groß für mich. Das kann ich nicht einordnen“. In diesem schwarzen Loch verschluckte das Bewusstsein die emotionalen Bewältigungschancen. Was für ein Dilemma. Ich fühlte mich wie eine Wüstenwanderin, die sehnsüchtig auf den erlösenden Regen wartete, um nicht völlig auszubrennen. 

Seit dem Beginn der Arbeit an diesem traumatischen Material waren zwei Monate vergangen, als mich in einer Therapiestunde der Frust packte. In mir entstand immer mehr der Eindruck, dass ich diese Bilder gerne abschließen wollte, aber mein Gehirn durch die Unbegreiflichkeit daran klebte. Die Taubheit wirkte wie der Pattex zwischen meinem Verstand und den verschleierten Emotionen. Ich konnte die Erlebnisse weder loslassen, noch brachte es mich weiter darüber zu sprechen. Wir suchten mit unserer Therapeutin nach einer Lösung. Es war offenbar zu diesem Zeitpunkt nicht möglich die innere Barriere zu den Emotionen abzubauen und gleichzeitig kamen wir ohne mit der Verarbeitung nicht weiter. In einem Gespräch fasste sie die bisher zusammengetragenen Details sachlich kurz zusammen. Von außen klang es nach einer Aneinanderreihung von Straftatbeständen. Freiheitsberaubung und Vergewaltigung einer zwölf Jährigen zum Zwecke der Abrichtung waren nur einige Teile der gesamten Szene.

Die Dämme im Innen hörten diese Worte. Schwallartig stürzten sie ein. Sie schienen nur auf diese Einordnung gewartet zu haben. Im Gegensatz zu der Verwirrung, die diese Erinnerung in mir auslöste, brachten die klaren Worte mich auf meine Gefühlsebene zurück. Sie benannten die erlittenen Grausamkeiten kurz und prägnant und machten sie damit auch für den Verstand greifbarer. Die Erlebnisse einer völlig verrückten Welt wurden ins rechte Licht gerückt, als das was sie tatsächlich waren – schwere Straftatbestände und Verbrechen an einem Kind. Das holte meinen Verstand aus der kompletten Überforderung wieder ins Boot. Denn diese Taten konnte ich im Gegensatz zu der tagelangen Folter greifen und dazu empfand ich eine ganze Menge. Jede einzelne rammte mir ein spürbares Messer ins Herz.

Seitdem arbeiten wir bewusst damit, Dinge für den Verstand immer wieder herunterzubrechen und damit verständlich zu machen. „Was war das, was da passiert ist?“ Die teilweise absolut wahnsinnigen Worte und Handlungen der Täter sind in ihrem Original als Opfer an vielen Punkten nicht zu begreifen. Das war ja gerade auch der Sinn der Sache. Welcher Erwachsene könnte etwa die Bedeutung von Märchen oder Kinderliedern während absurder Gewalthandlungen einordnen!? Wie soll der Sachverhalt dann erst von einem Kind nachvollzogen werden. Beim Wiedererinnern bleibt oftmals diese völlige Verwirrung als Relikt aus der Ursprungssituation. Ich würde für mich behaupten wollen, dass unfassbare Verwirrung oftmals sogar das einzige Gefühl war, dass mitten im Leid übrig blieb, weil das was mir angetan wurde schon damals alle Einordnungsöglichkeiten überstieg. Ich wusste nicht, was ich da fühle. Zum einen mag das an der Dissoziation gelegen haben, zum anderen waren es aber auch fehlende Kategorien zu Einordnung dessen, was da mit uns passiert ist. Niemand erklärt einem als Kind, wie sich beispielsweise Schock, entsetzen oder Dissoziation anfühlen. In der Therapie müssen dafür erst passende Schubladen erschlossen werden. 

Es hilft uns die Emotionen zu den Bildern zu integrieren, wenn wir die zugehörige Handlung kurzfristig versachlichen. Damit kommen wir aus der Verwirrung zurück in die Kernthemen der Gewaltabläufe. Wir können spüren, wie sich eine Vergewaltigung für uns angefühlt hat oder wie panisch wir versucht haben einer Situation zu entfliehen. Das begleitende Täterwortewirrwarr hingegen macht uns konfus. Da passiert etwas schreckliches und die Männer erzählen, dass es gut ist. Da verlieren wir jemanden und die Täter sprechen von einem Gewinn. Da haben wir Schmerzen und die Folterer zeigen uns wie froh wir darüber sein können, weil wir das erleben dürfen. Beispiele gäbe es noch viel mehr. Unterm Strich bleibt davon aber oft nur Taubheit übrig, weil wir nichts einordnen konnten. Wir geraten ins Schwimmen. Klarheit unterbricht diese maximale Konfusion und lässt uns näher an unser ursprüngliches Gefühl zurückkehren. Denn eigentlich war gar nichts schön daran vergewaltigt zu werden, besonders stark ausgebeutet zu werden ist keine Ehre und die erlittenen Qualen bleiben Straftatbestände, egal wie überzeugt die Täter von der Richtigkeit ihres Handelns waren.

Manchmal hilft paradoxer Weise der Verstand den Zugang zu Emotionen zu ebnen, wenn man ihm hilft Dinge einzuordnen. Extreme Gewalt übersteigt die normalen Bewältigungsmechanismen. Sie bleibt für das Gehirn unfassbar. Manchmal macht erst ein sachliches Downgrade des Geschehens auf Straftatbestände das emotionale Ausmaß deutlich.

5 Kommentare zu “Von der Gefühllosigkeit des Unfassbaren

  1. das ist total spannend. wir hatten vor ein paar monaten einen traum, in dem wir auf einer polizeiwache eine komplette aussage zu allem, was uns passiert ist, machen sollten. der leitende polizist wusste schon einige stichworte, und hat in diesem traum uns quasi auch eine liste von relevanten straftatbeständen vorgelesen. wir sind aus diesem traum aufgewacht und hatten zum ersten mal das gefühl, wirklich greifen zu können, was mit uns geschehen ist/getan wurde. und der umweg über auflistung der straftatbestände macht es uns auch gerade eventuell möglich, sortierter damit zu arbeiten, und auch sortierter fakten aufzuschreiben. voll gut, und voll gut, dass ihr es hier als möglichen weg der handhabung aufschreibt!

    • Ja, das ist es in der Tat. Da macht ihr derzeit anscheinend ganz ähnliche Erfahrungen. Danke, dass ihr uns daran teilhaben lasst! Wir finden es immer wieder ganz erstaunlich wie schlau das Unterbewusstsein im Traum sein kann und dabei hilft Dinge zu verarbeiten.

      Die Daumen sind ganz fest gedrückt, dass euch diese Herangehensweise hilft! 😊

  2. Puh erstmal danke. Hier liegt ganz viel drin, das ich noch nicht erfassen kann. Aber es gibt eine andere Seite dazu. Darf ich demnächst mal einen Beitrag machen und hierdrauf zurückkommen?

  3. Ich denke, dass eben diese krassen Ambivalenzen im Erlebten unter anderem für diese Schwierigkeit an Emotionen heranzukommen, dafür verantwortlich sind.
    Man hat ja förmlich ausgetrieben bekommen zu fühlen. Weil so, wie man gefühlt hat entweder von außen als falsch oder von innen/außen als bedrohlich erlebt wurden…Und das hat sich so so sehr verfestigt.
    Können das gut nachempfinden.

  4. Oft ist die Verwirrung auch deshalb extrem groß, weil Täter Alkohol oder psychoaktive Substanzen verabreichen. Das verschiebt die sowieso kaum fassbaren Gewalttaten in eine Art Traumbereich. Wie schwer ist es dann heute, das Puzzle nur annähernd zusammen zu setzen.

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