Traumaverarbeitung – Was habe ich wirklich begriffen?

Samstag. Endlich Wochenende. Die frühlingshafte Wintersonne blendet zum Fenster herein. In ihrem Schein wärmen sich meine Zehenspitzen. Den gesamten Januar habe ich irgendwo zwischen Krankenhäusern, Spezialstationen und Facharztpraxen verbracht. Frust macht sich breit, wenn ich daran denke. Mein Leben verlangt nach Behandlungsoptionen. Die Ärzte lassen mit ihren Ergebnissen auf sich warten. Derweil wütet in meinem Körper die autoimmune Zerstörung. Ehe es am Montag zum nächsten Mediziner geht, der meinen Zustand unter die Lupe nimmt, brauch ich vor allem eins: Pause. Während ich es mir gemütlich im Bett und auf dem Sofa einrichte, beginnt auch der Kopf die Zeit zu nutzen und das dauergetriggerte Erinnerungspuzzelwirrwar zu sortieren. Die Sonne eröffnet auf meinem Rücken eine Krafttankstelle. Ich frage mich: „Was habe ich in all der Zeit von den vergangenen Schrecken eigentlich wirklich begriffen?“


„Wenn ich wirklich ehrlich bin Nichts“, denke ich. „Nichts wirklich.“
Ich spreche inzwischen darüber. Mir ist in den letzten Jahren immer mehr von dem bewusst geworden, was seit meiner Kindheit an mir verbrochen wurde. Der Verstand akzeptiert weitestgehend, dass es passiert ist. Die extreme Gewalt war bittere Realität. Die Innenpersonen gehören fest zu meiner Identität. Aber Begriffen… Begriffen und mit seiner Bedeutung für unser Leben erfasst, habe ich das alles noch lange nicht. Stattdessen folge ich meinem alten Überlebensmuster: Funktion. Nur nicht stillstehen. Arbeit, Privatleben, Therapie. Auseinandersetzung ja und wenn es sein muss auch in aller Härte. Machen. Die Therapie aktiv gestalten. Überwinden. Mit dem Verstand. Nur nicht die Ohnmacht spüren, das Entsetzen, die Hilflosigkeit. Nur nicht still werden und anfangen zu leben, weil man für’s Leben fühlen müsste und es gibt nichts, was ich mehr fürchte, als das. Da bricht sie durch in mir, die traumaphobische Alltagsperson, die zwar über das Erlebte spricht, letztendlich aber immer noch flieht. Rationalisierung ist meine Droge, die mich taub macht für die erlittene Wirklichkeit. Begreifen sieht anders aus. Wann sitze ich da und weine, schreie und tobe vor Wut? So gut wie nie. Weil ich meist nur Leere empfinde und in der Therapie zwar in diese Leere hineinspreche, aber dem Schock unbewusst nicht erlaube sein Emotionswissen preiszugeben. Ich spreche über die Verletzung, die Trauer oder den Verlust, aber ich lasse mich nicht darauf ein, sie auch tatsächlich im Körper zu empfinden. Grundsätzlich würde ich nicht sagen, dass ich gänzlich unbewegt von der Vergangenheit bin, aber die Affekte sind im Vergleich zu dem worum es tatsächlich geht, stark mit Verstand gedeckelt. 

Manchmal, so wie gestern früh, blitzt die Wucht der Erfahrungen auch emotional in mein Bewusstsein durch. Nur einen kurzen Augenblick. Dann raubt es mir vor Entsetzen die Luft zum Atmen und ich fühle mich, als würde ich zum ersten mal erfahren, dass ich von bestimmten Menschen oder in bestimmten Situationen vergewaltigt wurde, obwohl ich schon so lange und so viel darüber gesprochen habe. In meinem Gehirn erreicht mich die Information zum ersten Mal wirklich. Klingt paradox oder!? Traumalogik. Der Albtraum greift nach der Realität und existiert mit seinem unerbittlichen Grauen, ehe er wieder hinter dissoziativen Nebelschwaden versinkt. Ich verstehe mehr und mehr, wie gefährlich es ist zu denken, man wäre über diese Traumata hinweg, weil sie einen im nächsten Moment dann umso heftiger einholen können und den Boden unter den Füßen wegziehen. Es braucht Demut vor dem Grauen. Wenn es sich aus dem Leben etwas zurück zieht, ist es gut. Wenn es wieder kommt – und das kann grundsätzlich jederzeit passieren -, wenn ein Stückchen Dissoziation fällt und die nächste Zwiebelschicht enthüllt, muss auch das sein dürfen. Das wissen darum, dass das immer wieder geschehen kann, hilft mir nicht den letzten Halt zu verlieren, wenn es soweit ist. Immer noch verheerend, aber zumindest erwartet. Wie das Meer jederzeit seinen Wellengang ändern kann und in den Tiefen verborgene Strömungen beherbergt, so empfinde ich auch unser Inneres. 

In dem Zusammenhang fällt mir immer wieder die Gefängnispsychologin Susanne Preusker ein, die sich nach einer Gewalttat durch einen JVA-Insassen letztlich doch das Leben nahm. In Interviews hat sie immer wieder betont, dass sie kein Opfer sein wolle. In der Gerichtsverhandlung war es ihr wichtig dem Täter in die Augen zu blicken. In Büchern und Lesungen wollte sie ihr Schicksal aktiv bewältigen. Es gehe ihr inzwischen gut, sagte Sie einmal. Ich glaube für mich heute, dass uns das ohnmächtige Opfer einholt und irgendwann umbringt, wenn wir ihm nicht bewusst Platz in unserem Leben einräumen. Das ist der Teil in uns, der schon viel früher gegangen ist und der den Körper nachholt, wenn wir ihn verdrängen. 

Affekte und Emotionen sind nicht meine Welt. Trotzdem merke ich, dass es jetzt ansteht sie zu betreten und meine Gedanken um ihr Wissen zu erweitern. Ich habe Angst davor mich darauf einzulassen und davor hilflos zusammenzubrechen, wenn ihre Wucht mich trifft. Lieber wage ich allerdings den kontrollieren Versuch, als davon irgendwann überrollt zu werden. Ein Experiment mehr zurück ins Leben. Ein Stückchen mehr begreifen. Uns weiter kennenlernen.

22 Kommentare zu “Traumaverarbeitung – Was habe ich wirklich begriffen?

  1. Dankeschön dieses Worte.
    Ich unterschreibe das auch für mich mit 1000 Prozent. Ganz genau so.
    Nur, darüber, ob es phobische Vermeidung/ Verdängung ist oder einfach Dissoziation, bin ich mir nicht sicher.
    Und weiß auch nicht, wie man das herausfinden soll und ob das wichtig ist.
    Aber ich könnte euren Text kopieren und als meinen ausgeben. 😏
    Ganz liebe Grüße und Umarmung falls erwünscht. M.

    • Ach, ihr lieben Lunis,
      da haben wir wohl mal wieder ganz ähnliche Probleme. Über das phobisch lässt sich in der Tat streiten. In dem Fall fanden wir es passend, weil ich wirklich Angst davor habe, das zu fühlen. Grundsätzlich finde ich aber auch, dass wir Alltagspersonen nicht pauschal traumaphobisch sind, sonder eben anders traumatisiert.

      Ganz liebe Grüße und eine Umarmung zurück, wenn ihr mögt!

      • Ich glaube, dass wir verrückt wären, davor keine Angst zu haben.
        Ich habe einmal erst das volle Ausmaß des Gefühls kennen gelernt und das auch gefiltert, da es in einem Flashbacktraum kam. Es war der pure Wahnsinn.
        Manchmal denke ich noch dran, wie schlimm das war und wie ununglaublich verzweifelt, schmerzvoll und alles zusammen, wozu mir selbst die Namen zu den Gefühlen fehlen.
        Ja, es wäre idiotisch und total verrückt, keine Angst vor diesen Gefühle zu haben, die in unserem System feststecken.

        Die Umarmung nehmen wir gerne *drück

    • Jetzt mussten wir kurz schmunzeln, weil ich hier auch oft korrigiert werde, wenn ich ungefragt Dinge auf uns beziehe, wenn doch nur ich das Problem habe. Unsere Alltagsgehirne scheinen sich zu ähneln. 🙂

      Vielen Dank für die liebe Rückmeldung!

  2. „Ankommen in der Ohnmacht“, kommt hier als Formulierung nach dem Lesen des Beitrags. Wir atmen durch. Diese Ohnmacht, dass die Gewalt bis heute Spuren hinterlassen hat… Spuren, die jederzeit, ungefragt, ihnen ausgeliefert, von jetzt auf gleich, sichtbar werden können…
    Ankommen und Zulassen dieser Ohnmacht, statt mit Therapie etc „dagegen“ anzugehen… Fühlt sich grad ganz wunderbar an. Einmal durchatmen. Kurz diese Ohnmacht zulassen. Ankommen. Danke für euren Beitrag.

    • Es freut mich sehr, wenn ich einen kurzen Moment der Entlastung für euch darin finden konntet. Manchmal ist es schon paradox, dass man sich besser fühlt, wenn man das Schwere zulassen kann. Das stellen wir hier auch immer wieder fest.

  3. Ich schreib hier mal, obwohl es mir irgendwie unpassend vorkommt…

    Aber auch wenn uns nicht das passiert ist, was euch allen passiert ist – die Mechanismen sind sich doch irgendwie ähnlich.
    Theoretisieren.
    Im Kopf bleiben.
    Nichts bzw. kaum etwas fühlen.
    Und wenn, nur dann und wann.

    Habe ich jahrelang in der Therapie ohne Probleme geschafft.

    Und jetzt?
    Gefühle in Dauerschleife.
    Einige bekannt, andere wiederum nicht.
    Es scheint so, als wären in letzter Zeit Kleine aufgetaut…
    Angst.
    Einsamkeit.

    Einsamkeit kannten wir nicht.
    Also früher.
    Jetzt schon.

    Und ehrlich gesagt, würden wir es nur zu gerne wieder loswerden.
    Dieses bescheuerte Gefühl.
    Und drinnen wird alles gegeben, damit das ein Ende hat.
    Funktioniert aber nicht.
    Nicht wirklich.

    Leider.

    • Das ist ganz und gar nicht unpassend! Wir freuen uns, dass du hier bist und dich getraut hast sichtbar zu werden! Es geht aus unserer Sicht gar nicht darum, wer wovon wie viel erlebt hat, sondern einfach um den Austausch. Wir finden es immer wieder sehr spannend und hilfreich von anderen Menschen zu lesen – ganz egal ob mit ähnlichen oder ganz anderen Hintergründen. Danke dafür!

      Wir kennen es nur zu gut, dass man in der Therapie immer wieder mit Gefühlen in Kontakt kommt, mit denen man sich das vorher nicht hätte vorstellen können. Ich war beispielsweise immer ein Mensch, der von sich behauptet hat ganz gut alleine klar zu kommen und plötzlich wollte und konnte ich gar nicht mehr ohne andere Menschen sein, hätte mich am liebsten vor Angst festgeklammert und war völlig überrumpelt davon.

      Ganz liebe Grüße,
      Sofie 😊

      • Liebe Sofie, auch wenn ich noch weit davon entfernt bin zu begreifen, dass all die Traumata und Innenpersonen etwas mit mir zu tun haben, so kenne ich es, dass etwas plötzlich ganz anders ist. Ich war immer gelassen und hatte immer nur gute Beziehungen und mir fiel das alles sehr leicht und inzwischen habe ich oft das Gefühl wie ein Kleinkind zu sein, das alles erst lernen muss, vielleicht weil vorher alles so sein sollte oder ich eben genau dafür da war und jetzt erst wo ich das erste Mal nicht nur „oberflächlich“ lebe, merke ich was für Probleme ich habe oder.. es ist eben anders als vorher. Vielleicht ist das ein bisschen vorbei am Thema, ich weiß es nicht. Ich weiß manchmal niht, ob es wirklich notwendig ist, dass man als Alltagsperson so nah dran sein muss an den Themen oder ob es nicht reicht, wenn das die betreffenden Personen sind.. vielleicht muss das jede’r für sich entscheiden, merke, mein Kopf setzt da gerad aus, entschuldige, aber den Rest schick ich nun doch ab. 🙂

        LIebe Grüße an dich und euch und schön, wieder etwas von euch gelesen zu haben! Passt gut auf euch auf.

  4. Danke, für deine Worte.
    Du hast aufgeschrieben, was wir seit Wochen umkreise, ahnen, nicht wahrhaben wollen.
    Es ist gut, es zu lesen auch wenn es Angst macht.

  5. Danke für diese Worte! Hier ist alles so schwammig, dass ich das nicht ansatzweise so ausdrücken oder differenziert wahrnehmen könnte.
    Das Lesen hat gerade sehr geholfen.

  6. Liebe Sofie,
    Welch wunderbarer Satz: „Ich glaube für mich heute, dass uns das ohnmächtige Opfer einholt und irgendwann umbringt, wenn wir ihm nicht bewusst Platz in unserem Leben einräumen. Das ist der Teil in uns, der schon viel früher gegangen ist und der den Körper nachholt, wenn wir ihn verdrängen.“ Dem stimmen wir aus vollem Herzen zu. Im Zusammenhang mit der erlittenen Gewalt sind wir Opfer, was NIE bedeutet NUR Opfer zu sein, im Gegenteil. Es gibt sehr viel Kraft, sehr viel Mut, ja nahezu übermenschlichen Mut, die uns überleben ließen und uns nun die Ausdauer gibt unser Leben immer mehr zurück zu erobern und uns, vielleicht irgendwann einmal mich, als Ganze kennenzulernen.

    Danke für deinen berührenden Text.
    Alles Liebe und Gute von Herzen
    „Benita“

    • Liebe Benita,
      wir können euch umgekehrt ebenso nur zustimmen. Wir betrachten es für uns auch als elementar wichtig an diesem Punkt einfach Opfer sein zu dürfen, weil es nunmal so war.

      Danke dir für deine Worte und ganz liebe Grüße! 😊

  7. Eigentlich kommentiere ich nicht gerne. Doch dazu wollte ich aus meiner Erfahrung was schreiben, denn das kenne ich sehr gut:
    „ Die Ärzte lassen mit ihren Ergebnissen auf sich warten. Derweil wütet in meinem Körper die autoimmune Zerstörung“

    Bei uns war es ganz schlimm, als unser Host durch eine falsche Therapie mit falscher Diagnose überlastet war (zu viel Emotion) und dann nicht mehr als Alltagsperson da sein konnte. Wir haben es sogar zur Diagnose Multiple Sklerose geschafft und mit dieser hatten wir dann über mehr als ein Jahrzehnt Eskalationstherapien, ohne dass sich irgendwas gebessert hat.
    Seitdem wir durch die richtige Diagnose die richtige Therapie erhalten können, die Traumata nach und nach durcharbeiten und parallel mit Peter Levines Ansätzen und einigen Nahrungsmittelergänzungen arbeiten haben sich alle Autoimmunreaktionen nahezu komplett verflüchtigt! Wir können wieder sehen, laufen, haben keine Schübe, keine Schmerzen (außer Körpererinnerungen…) und müssen keine Medikamente mehr dafür nehmen.
    Unser ehemaliger Host hält sich bei der Verarbeitung zumeist im Hintergrund und schreitet im Wesentlichen nur ein bei Sicherheitsfragen und für Teamverhandlungen. Wir vermissen ihn sehr an der Front, aber er bleibt für die Bearbeitungszeit lieber etwas distanzierter, weil logischerweise für ihn die Emotionen am schwersten zu verarbeiten sind.

    Dann gibt es bei Autoimmunerkrankungen noch eine Alternativtherapie (Coimbraprotokoll), die noch etwas umstritten ist. Allerdings können mit dieser Pharmaunternehmen auch kein richtiges Geld verdienen und sie ist zugleich hochgradig von der Disziplin der Patienten abhängig (was Ärzte wiederum oft nicht mögen).
    Eine Bekannte von mir hat auch MS und seitdem sie das macht, hat sie auch keinen Schub mehr (insgesamt schon 4 Jahre!).
    Der Behandlungsansatz geht von einer Stresshypothese als Auslöser für Autoimmunerkrankungen aus, und besagt, dass durch den Stress der Körper nicht mehr befähigt ist in ausreichendem Maß Vitamin D zu verarbeiten bzw. zu speichern. [Anmerkung „Sofies viele Welten“: Link entfernt]

    Viele Grüße und alles Gute!
    Luna

    • Wow! Vielen herzlichen Dank, dass du das mit uns teilst!

      Wir finden es gerade sehr bereichernd zu lesen, welchen Weg ihr da hinter euch gebracht habt und dadurch auch wieder ein Stückweit bestätigt zu sehen, was Traumatisierung auch auf körperlicher Ebene so alles anrichten kann und was mit der passenden Therapie auch wieder verschwindet.

      Ganz liebe Grüße,
      Sofie

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