Dissoziation, Nebel und eine Schale voller Nudeln

Ich sitze im Sessel und stochere in meinen Gemüsenudeln. Eigentlich habe ich keinen Hunger. Würde mein Magen nicht von der Leere brennen, hätte ich mir Essen vermutlich einfach ganz gespart. Während die Gabel sich zwischen den Fingern im Kreis dreht und feine Spaghetti zu Miniaturnestern rollt, versinkt die Umgebung jenseits meiner Wahrnehmungswelt. Ich fühle mich, als könnte ich mich selbst im Zimmer beobachten und mir anerkennend auf die Schulter klopfen: „Herzlichen Glückwunsch! Du schaffst es einen Gabel zu drehen.“ Gleichzeitig scheint es, als würden mich dünne neblige Scheiben von allem um mich herum abtrennen. Die Welt da drüben jenseits des Schleiers und ich.

Immer wieder erinnere ich mich daran, dass Traumatherapeuten mich jetzt wohl auf die Notwendigkeit der Reorientierung aufmerksam machen würden. Mir fallen Übungen ein, in der man in der Umgebung bestimmte Farben sucht, um dem Gehirn zu helfen sich in der Gegenwart zu verankern. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich aber gar nicht, ob ich das möchte. Denn so unangenehm dieser Zustand auch sein mag, mir schwant, dass die Gefühlsladung dahinter noch weit brisanter ist. Entsprechend entscheide ich mich an der Stelle die Dissoziationsflucht bewusst zu erlauben. Sie ist keineswegs immer schlecht. Manchmal ist es besser auszusteigen, als in Gefühlszunamis zusammenzubrechen. Wir können nicht alles auf einmal realisieren – auch heute nicht. Wäre das möglich gewesen, wären wir nicht viele.

Die Gabel dreht sich. Eine Zuchini landet mit zarter Bitterkeit auf meiner Zunge. „Damals…“ Und heute? Mir ist nicht klar, was ich fühle. Einzig ein stiller Todeswunsch dringt immer wieder zu mir ins Bewusstsein durch. Aus der Erfahrung gelingt es mir inzwischen ihn in seiner Qualität einem Erleben während der Gewalthandlungen zuzuordnen. Dennoch kommt er scheinbar isoliert. Über die bildhaften Erinnerungen hängen dicke Vorhänge die ihre Geheimnisse dahinter verbergen und nur selten bereit sind eine Ecke zu lüften. Zu viel Stress. Zu viel Unsicherheit. Zu viel. Ich weiß, dass sie da sind, wie Räume hinter echten Fensterscheiben, aber ich kann dennoch nicht bewusst ins Innere blicken.

Bald wird die letzte Nudel meine Speiseröhre hinunter rutschen. Es fällt mir schwer, zu schlucken. Das Essen, aber auch das, was war. So gerne würde ich mich wehren. Die Kampfimpulse verspätet nach außen bringen und sie alle für ihre Taten zur Rechenschaft ziehen. Was bleibt, ist die Kreativität. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

8 Kommentare zu “Dissoziation, Nebel und eine Schale voller Nudeln

  1. „Entsprechend entscheide ich mich an der Stelle die Dissoziationsflucht bewusst zu erlauben.“… Danke… Danke für den Text, diesen Satz und das Schreiben, dass (auch) bei euch Essen ein Thema ist.

    • Sehr gerne und danke für die liebe Rückmeldung! 🤗

      Essen ist bei uns derzeit ein Dauerthema, bei dem körperlich und psychisch viel zusammen läuft. 🙄

      Wir wünschen euch viel Kraft und hilfreiche Impulse, die Essen wieder erleichtern!

  2. Ich habe mich sehr wieder gefunden in deinem Text, ich übe auch gerade zu lernen wann ich meiner Dissoziation Raum geben mag und wann nicht. Manchmal ist es schwer abzuwägen. Es tut gut nicht allein zu sein !

    • Hallo Josy,
      vielen Dank für deine liebe Nachricht! 😊 Ich bin gespannt, ob du irgendwann davon berichtest, wie es dir mit dem Experiment „Dissoziation steuern“ ergeht. Keine leichte Aufgabe, die du dir vorgenommen hast.

      Ja, es tut gut nicht alleine zu sein! Schön, dass du hier bist! 😊

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