Videokonferenzen nach ritueller Gewalt und organisierter Ausbeutung

Ich sitze hier in meinem Sessel. Die Beine übereinander geschlagen. Der rechte Fuß wippt unruhig. Während ich mich im Raum umsehe, stelle ich fest, dass meine Kieferknochen fest aufeinander gepresst sind. Ich muss hier raus! Eilig springe ich auf und haste zum Balkon. Mir ist danach das kleine Grablicht anzuzünden, obwohl die Sonne gleißend hell scheint. Kurz die Hände auf die nasse Erde legen. „Mein kleiner Schatz!“ Das Herz stolpert. Tränen überfallen mich, doch nur im Innen. Außen hält mich Schweigen gefangen. Bilder von früher aus dem Bereich des Kinderhandels und der Zwangsprostitution nehmen sich Raum. Die Luft schwindet. Irgendwo in der reißenden Gedankenflut schiebt sich eine Frage in den Raum: „Weshalb bricht da gerade in mir so das Chaos durch? Bis grade eben war doch alles ok! Oder nicht?“ Ich schaffe es mich kurz von den Erinnerungen loszureißen und lasse die letzten Minuten Revue passieren. Sessel – Meeting beendet – Laptop zugeklappt… Dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Die Kammera. Das Funktionieren vor dem Bildschirm, während andere mir dabei zusehen, triggert mich. Die Erinnerungen an alte „Dreharbeiten“ wurden wach.

Es ist nicht das erste Mal, dass ich mich ganz und gar nicht wohl fühle, nachdem ich in einem Online-Meeting war. Unter der Woche ist es meist nur so, dass die nächste Arbeitsaufgabe einfach übergangslos daran anschließt. Entsprechend bin ich gezwungen eben irgendwie drüber zu funktionieren und habe kaum den Raum mir für mein Innen Zeit zu nehmen und genauer nachzufragen. Tatsächlich war mir in meiner „Funktionsblindheit“ auch völlig vom Schirm gerutscht, dass Kammeras, Fotos und Videos für einige hier ein echtes Problem darstellen. Bis heute. Wir arbeiteten zu Hause. Danach war nur noch Freizeit geplant. In dem Moment, in dem die berufliche Anspannung nachließ und ich zum entspannten Teil des Tages übergehen wollte, drängten die Innens mit ihrer Not nach vorne. Ohne, dass ich das wollte, haben einige zwei Stunden lang vor dem PC im Homeoffice ihre Qualen wieder erlebt. Die gilt es nun als erstes zu versorgen, ins Gespräch zu kommen und anschließend auch zu überlegen, wie wir das für die Zukunft anders handhaben können.

Langsam beruhige ich mich. Ich kann wieder atmen. Erschöpft lasse ich mich auf’s Bett fallen. Wie vielen Menschen es wohl derzeit ähnlich ergeht, wie uns? Die Herstellung von Kinderpornografie ist leider kein seltenes Delikt. Der Fall Metzelder beweist aber, dass offenbar bei Gerichten noch immer kein Bewusstsein dafür da ist, dass die betroffenen Kinder und späteren Erwachsenen irgendwo leben und mit dem erlittenen umgehen müssen. Diese Form von Gewalt ist mehr als nur ein Foto oder Filmchen und wir denken für unseren Teil sehr wohl auch über die Konsumenten unseres Bildmaterials nach. Sie sind keine Opfer sondern Täter! Für unser Empfinden und damit auch dem Schaden, den es für mich anrichtet, macht es überhaupt keinen Unterschied, ob sie live bei den Vergewaltigungen anwesend waren oder nicht. Sie schauen dabei zu und sind damit Teil der Missbrauchsszene. Alleine die Vorstellung wie jemand noch heute vor den alten Folterdokumentationen Lust verspürt ist schwer zu verkraften.

Vermutlich machen sich derzeit die wenigsten Arbeitgeber_innen darüber Gedanken, ob eine ihrer Mitarbeiter_innen vielleicht Probleme damit hat an Online-Meetings aus dem Homeoffice teilzunehmen, weil sie die Kammerasituation an Foltererfahrungen erinnert. Umgekehrt bin ich als Arbeitnehmerin aber dazu verpflichtet, im Homeoffice zu bleiben, wenn mein Chef das möchte. Wäre das ein Dauerzustand wären wir vermutlich dazu gezwungen uns krank zu melden, weil wir das mit dem heutigen Stand unserer Aufarbeitung noch gar nicht leisten könnten. Die Frage stellt sich so aktuell zum Glück nicht, aber wir können uns gut vorstellen, dass das einigen anderen Betroffenen so ergeht. Wir wollen an dieser Stelle kurz darauf hinweisen, dass das Problem nicht weit weg oder irgendwo in einer anderen Firma dieses Planeten vorkommt, sondern unter Umständen sogar bei einer deiner Kolleg_innen besteht, ohne dass du davon weist. Diese Gewaltformen betreffen uns alle – sei es nun direkt oder indirekt.

Wir würden uns mal wieder wünschen, dass man über derartige Erfahrungen offen reden könnte. Dass wir nicht nur auf uns selbst angewiesen wären und das quasi unser privates Problem bleibt. Genau wie andere Menschen mit gewissen Einschränkungen Eingliederungshilfen bekommen, so bräuchten auch wir dieses Entgegenkommen. Die Aufarbeitung unserer Geschichte wird noch etwas dauern und wir werden immer nur Schritt für Schritt mehr leisten können.

Und „by the way“: Das Problem besteht übrigens auch an den Stellen, wo Therapie, Beratung und Selbsthilfe überwiegend online stattfinden soll. Dazu sind viele Betroffene einfach gar nicht in der Lage und diese Kontaktmethode bedeutet schlicht weitere Ausgrenzung aus dem Hilfesystem.

7 Kommentare zu “Videokonferenzen nach ritueller Gewalt und organisierter Ausbeutung

  1. Vielen lieben Dank, dass ihr darüber schreibt und über diese Erfahrungen berichtet! Euer Text berührt mich sehr. Für mich wird es immer unfassbarer, wie wenig über bestimmte Gewaltformen (sexuelle Gewalt und vor allem rituelle Gewalt) gesprochen wird und dass sie gesellschaftlich so unsichtbar sind. Hier in Österreich ist ein Diskurs darüber praktisch inexistent…
    Ganz liebe Grüße rüberschickend,
    Tina

  2. Oh, was für ein Glück, dass du es geschafft hast, in der Situation so schnell zu reagieren und dir bewusst zu machen, was da so getriggert hat!
    Ehrlich gesagt, hab ich bei uns genau das als das hilfreichste erlebt, dass ich als Alltagsperson realisiere, dass grad wer getriggert ist und wovon. Und dass ich schnell reagiere.

    Anfangs hab ich das genau wie du gemacht und mir versucht, ins gespräch zu kommen mit dem jeweiligen Innenkind und gemei sam zu überlegen, wie in Zukunft besser damit umzugehen wäre.

    Inzwischen hab ich gelernt, dass den allermeisten Innens bei uns genau damit oft geholfen ist, dass mein Gewahrsein, meine Aufmerkamkeit für Situationen, die kippen können, mit der Zeit geschärft ist und ich schneller reagieren kann, also ich mein, ich kann mich dann einklinken und sie müssen nicht mehr allein da durch.
    Ich glaube inzwischen, dass die meisten Innies bei uns mit der Dimension „in Zukunft“ gar nicht so viel anfangen können, sie sind meist (noch) in ihrer Gegenwart gefangen und gewinnen erst Stück für Stück an Sicherheit, wenn ich in der akuten Situation schnell reagiere. 🌠

    Funktioniert das bei euch gut, im Gespräch Lösungen zu finden?
    Freu mich, wieder so viel von euch zu lesen und wünsch euch einen guten Start in die neue Woche! 🐖

  3. Puh! Da bleibt mir erstmal die Luft weg. Nach diesen Zeilen schaue ich plötzlich ganz anders auf meine Kamera, die ich zur Zeit auch jeden Tag benutzen muss. Natürlich weiß ich, dass Missbrauch in Deutschland leider keine Seltenheit ist und doch liegt es soweit außerhalb meines Erfahrungshorizonts, dass ich auf eine solche Wirkung von Homeoffice nicht gekommen wäre. Danke für diesen Einblick.

    • Oh, das war gar nicht beabsichtigt! Ich hoffe die Atmung kam schnell wieder!

      Manchmal ist es für uns umgekehrt soweit weg, dass man nicht ständig darüber nachdenkt, weil es zur völlig normalen Lebensrealität gehört, dass wir die Wirkung auf Außenstehende schlecht abschätzen können. Wir müssen erst noch lernen, dass das manche Menschen tatsächlich auch erst mal schockiert oder völlig neu ist. Deshalb vielen herzlichen Dank für deine Rückmeldung! Die hilft uns sehr auch umgekehrt zu verstehen!

      • Ich glaube, dass Erleben auf beiden Seiten ist so weit auseinander, dass die Akzeptanz im ersten Moment schwer fällt, weil einem die Vorstellungskraft für die Situation der/des anderen fehlt. Aber Beiträge wie dieser können zeigen, dass die Realität einer/eines Einzelnen so viel komplexer sein kann, als man es sich vorstellen kann. Vielleicht kann so die Akzeptanz und die Achtsamkeit erhöht werden. Vielen Dank für Deinen Mut dies hier zu schreiben.

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