Mutterschmerz, Trauer und Alltag ohne Kompromisse

Draußen ist es feucht. Immer wieder fällt ein schwerer Tropfen vom Himmel. Die herbstlichen Nebelschwaden des Morgens verziehen sich langsam und verschmelzen zu klarer Luft. Im großen Baum neben dem Haus zwitschern die Vögel. Der kalte Wind durch die Balkontür lässt meine Beine frösteln. Im Kopf pocht Traurigkeit. Verzweifelt knete ich das kleine Stofftier in meinen Händen. „Ich vermisse sie“, weint mein Kopf. In den Gliedern weilt reglose Starre. Manchmal schaffe ich es recht gut meinen Alltag zu regeln und mich etwas von dem Innen zu distanzieren. An anderen Tagen überrollt uns eine Welle der Emotion. Sie trifft inzwischen auch das Heute. Je näher wir uns kommen, um so weniger ist es möglich in mehreren Welten gleichzeitig zu existieren ohne sich gegenseitig zu beeinflussen. Immer mehr kann ich das akzeptieren. Es ist gut sich zu spüren, weil es gesünder ist und so fühlt es sich trotz all dem Schmerz auch an. Heute vermissen wir sie – unsere Kleinen, die einst in unserem Bauch wohnten. Mutterschmerz.

In den Augen wandern die Tränen. Mal drücken sie sich bis an den Lidrand nach vorne. Mal laufen sie totenstill im Kopf. Ich arbeite weiter, halte inne, fühle mich falsch dabei im Angesicht des erlittenen Grauens den Alltag aufrechtzuerhalten, als wäre nie etwas gewesen und rede mir immer wieder ein: „Alles darf sein. Gleichzeitig.“ Die Wahrheit ist, ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob wirklich alles sein darf oder ob das nur eine weitere Lüge ist, um zu überleben. Es erscheint mir ungerecht die Welt eigenständig von meinem Schmerz zu entlasten, indem ich funktioniere. Wohl auch, weil ich mir insgeheim Wünsche mehr Menschen im Leben zu haben, die uns mit unserer Geschichte sehen. Wie jeder Mensch, so wünsche ich mir auch als Viele-Frau als diejenige wahrgenommen zu werden, die ich im Herzen bin. Ja, ich bin mehr, als die erlittene Gewalt. Aber: Ich bin zu einem großen Teil eben auch die erlittene Gewalt. So wie jeder Mensch zu einem gewissen Teil seine eigene Geschichte ist. Wir können sie nicht wegradieren und verneinen ohne uns selbst ein Stück mit aufzugeben. Sie steckt in jeder Zelle unseres Körpers. Das ist unter anderem ein Grund, weshalb ich kaum einen anderen Menschen wirklich als Freund oder Partner bezeichne. Wer unsere Geschichte nicht kennt, kennt uns nicht. Wir haben niemals das Gefühl dort wirklich als Mensch ankommen zu können.

Wir versuchen gemeinsam zu sein. Wege zu finden, die sich für uns richtig anfühlen und Kompromisse im Innen zu vermeiden. Bei einem Kompromiss verlieren beide Seiten. Keine hat wirklich das, was sie eigentlich möchte. Wenn irgendwie möglich, sind wir bestrebt herauszufinden, was der tiefere Grund/Bedürfnis hinter einem Wunsch ist und den auch so zu erfüllen. „Weshalb genau möchte ich oder jemand anderes etwas so?“ Ich will heute meinen Alltag. Die Mütter im Innen wollen einfach nur ihre Ruhe und Rückzug. Würden wir einen Kompromiss finden wollen, würde ich etwa versuchen den Alltag etwas ruhiger zu gestalten. Dabei könnten aber weder die Innens wirklich zur Ruhe kommen, noch wäre ich frei meine Aufgaben richtig zu erledigen. Wir würden also alle nicht das bekommen, was wir eigentlich brauchen. Wenn ich aber sehen kann, dass ich Alltag deshalb krampfhaft möchte, weil ich eigentlich nur Angst vor dem Kontrollverlust habe, wenn mich die Emotionen überspülen und die Mütter heute keine Ruhe im Sinne von alleine zu Hause sein brauchen, sondern sie sich eigentlich wünschen wirklich Raum für ihre Emotionen und die Trauer zu haben, sieht die Lösung anders aus. Dann geht in dem Fall beides gleichzeitig. Ich kann mir meinen Tag so einrichten, dass ich nicht Angst vor dem Kontrollverlust haben muss, indem ich mir überlege, wer erreichbar sein könnte, wenn die Gefühle zu viel werden. Mit einer gewissen Sicherheit im Rücken, ist es für mich dann auch in Ordnung, wenn die Innens mit ihrer Trauer voll spürbar werden und ich muss nicht mit Druck drüber funktionieren und mich damit taub machen. Ich kann meine Aufgaben erledigen und gleichzeitig erlauben, dass die Innens mit ihren Gefühlen da sind. Das nimmt allen Stress. Vielleicht braucht es an Tagen wie diesen mehr Pausen, mehr nach Innen spüren und mehr Achtsamkeit mit unseren Grenzen. Dann aber können sie für alle Beteiligten dennoch gelingen. Das klappt keineswegs immer und für alle Situationen, aber doch häufiger, als wir es anfangs gedacht hätten.

Liebe Kleinen auf der anderen Seite, ihr seid wundervoll und wir denken an euch!❤️

5 Kommentare zu “Mutterschmerz, Trauer und Alltag ohne Kompromisse

  1. Liebe Sofie und Schmetterlinge, wir sehen euch zumindest soweit das hier möglich ist. Wir erleben euch in dem was ihr hier anvertraut und finden es jedes Mal toll und eine Bereicherung von euch zu lesen. Wir sehen euren Schmerz, die Trauer und können diese schmerzhaften Verluste so sehr nachvollziehen. Es tut einfach furchtbar weh!
    Fühlt euch lieb gegrüßt. Lisa

    • Liebe Lisa,
      wir freuen uns immer sehr von euch zu lesen und finden es schön, dass ihr uns hier begleitet! Vielen Dank für eure Anteilnahme und die lieben Worte! Ganz liebe Grüße zurück und einen hoffentlich guten Start ins Wochenende! 🤗🦋

  2. Liebe Sofie.
    Eure mauern bröckeln und was du beschreibst kennen wir sehr gut, daß es sich trotz der auch schweren gefühle und stimmungen gesund anfühlt. Ja, es ist gut, sich zu fühlen und es ist ein umgeheurer balanceakt, die innens im alltag mitzunehmen.

    Als ungerecht und in diesem sinne falsch empfinden wir es auch oft, daß wir unsere traumata in einer großen kraftanstrengung und oft auch großer eigenständigkeit selbst versorgen, und so praktisch dafür sorgen, daß wir die gesellschaft mit unseren traumabedingten beeinträchtigungen nicht behelligen.
    Allerdings gibt es für mich noch einen anderen gewichtigen grund, fast niemanden mit unserer geschichte zu konfrontieren:
    wenn jemand/gesellschaft damit nicht umgehen kann und nicht in der lage ist, mit adäquaten gefühlen darauf zu reagieren, muß ich mit einer abwehrreaktion rechnen. Und da ist mein bedürfnis auch, sowohl mich als auch mein gegenüber davor zu bewahren. Also funktioniere ich weiter, soweit das geht. Selbst wenn die reaktion bei meinem gegenüber, sagen wir mal, ganz schlicht wäre, beschämt zu sein ob der geschilderten leidensgeschichte, wäre mein bedürfnis eben auch, mein gegenüber nicht zu beschämen, weil ich selbst so sehr verinnerlicht habe, was scham bedeutet, und weil ich eben auch verinnerlicht habe, daß man andere nicht beschämt.

    Liebe Sofie
    Ich möchte euren Müttern noch etwas hierlassen :

    Ich weiß, wie es ist, sein kind im arm zu halten, ich weiß, wie es sein kann, sich zu sorgen um das kleine, sich auch aufzureiben in sorge, mein kind ist jetzt 13.
    Was ich nicht weiß: wie es ist, sein kind nicht im arm halten zu dürfen, es nicht aufwachsen sehen zu dürfen , ich vermag nicht mal annähernd zu erahnen, wie es sein muss, sein kind verloren zu haben. Es tut mir so leid, daß ihr diesen schmerz erleiden musstet ! Ich vermag mir kaum vorzustellen, wie es sein mag, damit zu leben, während der schmerz um ein sehnlich vermisstes kind droht, alles mit sich zu reißen. Es tut mir so leid !
    Passt gut auf euch auf !
    Jonge für die Adler hier

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