
Der Wind rauscht rauh am Haus vorbei. Das kalte Wetter hält mich drinnen im Warmen. Auf dem Smartphone scrolle ich durch Nachrichten und Social-Media-Beiträge. Immer wieder stolpere ich heute und auch in den letzten Tagen und Wochen über Artikel zu den sogenannten „Spaziergängen“ auf denen Menschen gegen die geltenden und kommenden Corona-Maßnahmen protestieren. Nicht zuletzt ist dort die drohende Impfpflicht ein zentrales Thema. Das bedenkliche daran: Rechtsextreme, so heißt es, würden diese Gelegenheit für ihre Zwecke nutzen und nationalsozialistisches Gedankengut verbreiten. Die Demokratie werde auf diese Weise unterwandert und gefährdet. Das darf nicht sein. Also werden nun auch die Menschen laut, denen die Vorstellung wiedersagt, dass Nazis durch unsere Straßen spazieren und halten dagegen. Mahnende Stimmen äußern sich: „Mit Nazis geht man nicht spazieren.“ „Wer mit diesen Menschen spazieren geht, ist selbst Abschaum.“ Demos gegen die Demos finden statt. Oft zeitgleich, um den Raum der „Spaziergänger“ einzuschränken. Ich merke, dass ich innerlich vielfältig auf die Proteste von beiden Seiten reagiere. Das äußere Chaos spiegelt sich im Inneren. Trigger. Angst. Panik. Eine Frage stellt sich mir besonders: „Worum geht es jetzt eigentlich? Wem? Und weshalb?“ Das will ich für mich einmal sortieren.
Ohne Zweifel steckt in der aktuellen Corona-Situation und der Impfpolitik für uns enormes Triggerpotenzial. Das war schon vor den „Spaziergängen“ so. Der Vorwurf, dass nun Rechtsextreme die Straßen fluten, um die Pandemie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren und ungerechtfertigt Stimmung gegen die Regierung zu machen wiegt schwer. In der Tat fände ich es eine beängstigende Vorstellung, wenn man diese Veranstaltungen als Naziaufläufe sehen müsste, die braunes Gedankengut zurück auf deutsche Straßen tragen. Das wäre auch völlig unabhängig von meiner Geschichte so. Ich bin gegen Gewalt und fordere diesbezüglich immer wieder eine klare Haltung. Entsprechend wäre ich eigentlich die Erste, die derartige Veranstaltungen unterbinden wollen würde, sofern sie demokratie- und menschenfeindliches Gedankengut verbreiten. Das große Problem daran ist nun, dass eine Großzahl der Teilnehmer überhaupt nicht rechts oder gewaltbereit veranlagt ist, sondern schlicht und einfach ihren Unmut zur aktuellen Politik laut kund tut. Das wiederum ist ihr gutes Recht in einer Demokratie und hat mit Staatsfeindlichkeit primär und pauschal überhaupt nichts zu tun. Wie sollen sie sonst sichtbar werden, wenn nicht auf öffentlichen Veranstaltungen!? Dass sich aufgrund der Öffentlichkeit immer wieder extreme Strömungen anschließen ist nichts ungewöhnliches und auch nicht zu verhindern. Als Reaktion alle pauschal über einen Kamm zu scheren halte ich allerdings für falsch. Das auch rechts orientierte Bürger teilnehmen, muss eine Gesellschaft aushalten und zu händeln wissen, solange friedlich protestiert wird. Eine Frage bleibt auch wenn man es nicht gerne hören mag: Kann nicht auch ein Mensch mit grenzwertiger politischer oder rechtsradikaler Gesinnung an der ein oder anderen Stelle eine hörenswerte Meinung haben und etwas richtiges sagen!? Dafür müsste man allerdings zuhören und genau reflektieren. Darum wiederum geht es aktuell kaum jemanden. Für Menschen die nicht selbst an den Spaziergängen teilnehmen wollen oder können, um sich einen eigenes Bild zu verschaffen fehlt zudem eine differenzierte, detaillierte, sachliche und bewusst neutrale Berichterstattung.
Während gegen den Anteil rechtsextremer Teilnehmer an den Spaziergängen und gegen die Spaziergänge an sich protestiert wird, fällt völlig unter den Tisch, weshalb diese Menschen sich überhaupt aufgemacht haben, um zu protestieren: Die Impfpolitik. Statt diese Ängste einmal wahrzunehmen und kritisch zu beleuchten, vernichtet man jede sinnstiftende Auseinandersetzung und Kommunikation, indem man eine unakzeptable und verschwörerische Gesinnung unterstellt. Man könnte Extremismus auch begegnen, indem man politisch wie gesellschaftlich frühzeitig den Eindruck vermittelt, dass man die Sorgen und Nöte aller Bürger ernst nimmt. Mir ist eine derartige Haltung bislang noch von keiner Partei vermittelt worden. Statt dessen gehen nun andere Bürger auf die Straße, um gegen die Spaziergänge zu protestieren, weil ihnen das Angst macht. Es ist paradox und dennoch passiert es: Menschen die Angst vor einer Diktatur haben protestieren nun gegen Menschen die Angst vor einer Diktatur haben. Menschen, die Angst vor den Auswirkungen des Corona-Virus haben, protestieren gegen Menschen die Angst vor den Auswirkungen des Corona-Virus haben. Weshalb!? Weil die Unterschiede in der jeweiligen Bewältigungsstrategie gegenseitig so viel Angst machen, dass man sich lieber die Köpfe einschlägt, statt sich einmal gemeinsam an einen Tisch zu setzen und im empathischen Miteinander Lösungen zu finden – denn unterm Strich ist man hier einer Meinung! Corona ist Scheiße und macht Angst! Stattdessen verliert man sich in einer Einbahnstraße: Stammhirngesteuerte Aktion statt zu fühlen.
Ich bin in Gewaltstrukturen aufgewachsen, in denen Rechtsextremismus eine große Rolle gespielt hat. Die Folter und Menschenversuche der Kriegsgeneration wurden verherrlicht und genutzt um Kinder für die Zwecke des organisierten Verbrechens abzurichten. Wohl jeder multiple Mensch kennt es auf seinem Heilungsweg in seinem Inneren enorme Gegensätze vereinen zu müssen. Während wir im Außen die Gruppenbildung und Spaltung aktuell deutlich vor Augen sehen können, bleibt die innere Spaltung für die Umgebung häufig unsichtbar. Vielleicht, so denke ich mir in den letzten Wochen oft, könnte eine gewisse traumatherapeutische Grundschulung der Gesellschaft aktuell nicht schaden. In der Psychotherapie erwartet man von uns längst, dass wir niemanden in uns ablehnen und alle Ideologien gehört werden dürfen. Sie wurden verinnerlicht und adaptiert um zu überleben. Einzige Bedingung: Keine Gewalt gegen sich selbst oder andere! Es war oft schwer, wenn ich im Inneren menschenfeindliche Haltungen wiedergefunden habe und Innenpersonen, die nach einer ganz anderen Ideologie leben wollen. Ob mir das passt oder nicht, kann ich sie allerdings nicht einfach rauswerfen. Je mehr ich demonstriere, umso stärker wird ihr Boykott und die Randale. Wenn ich den Krieg beenden will, muss ich zuhören. Egal wie viel Angst mir das immer wieder macht. Ich muss verstehen, was hinter den einzelnen Erlebenswelten steht und oft genug nicht nur mit dem Verstand zuhören, sondern auch „zufühlen“. Im Inneren bin ich mehr als einmal mit „Nazis spazieren gegangen“ und ich werde es auch in Zukunft sicher noch oft tun müssen, wenn wir heilen wollen. Wenn wir nicht mit ihnen spazieren würden und ins Gespräch kämen, wüssten wir nicht dass es sie gibt und ob sie das sind, wofür wir sie als Alltagspersonen auf den ersten Blick halten. Wer macht sich die Mühe auf den aktuellen Corona-Spaziergängen, die Teilnehmer erst einmal zu sortieren!? Ich muss gewisse Ideologien nicht gut heißen und dennoch die Offenheit haben dem Horror ins Auge zu blicken ohne die (Innen-)Menschen dahinter abzulehnen. Ich erlaube nicht, dass sie mich bespucken und abwerten. Aber ich biete eine ehrliche Hand, die bereit ist ihre Not zu sehen, egal wie verrückt sie mir auf den ersten Blick erscheinen mag. Ich gehe mit einer möglichst respektvollen Haltung in Vorleistung, erwarte umgekehrt allerdings gleiches. Erst wenn alle sein dürfen, mit allem was sie erfahren haben und gesehen sind, können wir gemeinsam einen Schritt weiter gehen.
Ich würde mir so wünschen, dass immer mehr Menschen diesen Mut zunächst einmal sich selbst in allen Facetten zu fühlen entwickeln würden. Der Frieden in sich schafft Frieden mit anderen. Ich bin gewiss nicht Buddah, heiße nicht alles gut und habe in meinem Leben eine klare Haltung gegen Gewalt. Manchmal widerspreche ich meinen eigenen Grundsätzen, manchmal raste ich aus, manchmal geht das Stammhirn mit mir durch und ich mache aus Angst Dinge, die ich später bereue. Nach unserer Geschichte wollen wir dennoch die Hoffnung und das Vertrauen schaffen, dass man sich und den Schmerz aushalten kann, dass es sich lohnt und dass selbst in der unmenschlichsten Situation Menschlichkeit zu finden ist. Lasst uns einander zuhören, die Hand reichen und gemeinsam durch die Angst gehen, statt es immer schwerer und komplizierter zu machen. Das Herz hilft da, wo der Verstand ohnmächtig wird.
Warum und wozu soll man mit solchen Spaziergänger_innen reden? Was glaubst du noch zu hören, wenn sie Verschwörungserzählungen verbreiten? Was machen sie deiner Meinung nach nicht gewaltvolles, wenn sie sich als politisch Verfolgte und Ausgegrenzte zelebrieren und ihre Situation mit der von mehr als 6 Millionen Juden und Jüdinnen vergleichen?
Was meinst du mit deiner Herzenshaltung auffangen zu können, was diese Menschengruppen sich wissentlich und willentlich seit Jahren in den Kopf hämmern? Wie vermessen kann man nur sein zu glauben, der weiche Kern in jedem Menschen würde auf die immer gleiche Art weich und verständig sein.
Und wie gedenkst du deine Solidarität zu teilen? Montags kuscheln mit Nazis, weil sie ja auch nur Menschen sind und den Rest der Woche allen Leuten, die vor Nazis um ihr Leben fürchten müssen, sagen, dass sie sich irren? Dass ihnen nicht auch die Bude angezündet, die Kinder verprügelt, die Familie getötet wird, weil Nazisein im Grunde eine Irrung ist wie man sich halt manchmal vertut, wenn man nicht auf sein Herz hört?
Jede_r, die_r mit Nazis läuft hat ein Motiv dafür und billigt die Gewalt, die sie ausüben. Das in Frage zustellen und von der Menschlichkeit der Personen getrennt zu sehen ist unsolidarisch allen anderen Menschen gegenüber, die ihre Angst nicht in Hassrede, die Leugnung oder Verharmlosung der Shoa und die Verbreitung von Lügen geben.
Und was genau machst du besser, wenn du mir verbal eins überbrätst und über meine Grenzen gehst? Ist das dann eben erlaubte Gewalt, weil du einen Sinn darin erkennen kannst sie an dieser Stelle anzuwenden? Fühlst du dich besser damit dich mit Worten über mich zu stellen und mir Begrenztheit oder Naivität zu unterstellen, weil meine Ansicht deinem Weltbild nicht entspricht und dich triggert? Hilft es dir dich hinter Fragezeichen zu verstecken, statt Aussagen zu deinen Gefühlen und Meinungen zu treffen, auf die ich eine Chance hätte entsprechend zu reagieren? Soll ich jetzt nicht mehr mit dir sprechen und dich lieber gleich für emotional minderbegabt halten oder wäre es ganz nett, wenn ich einfach erst mal versuchen würde zu verstehen wogegen du weshalb mit deinem Kommentar protestiert? Falls letzteres der Fall ist, weißt du jetzt, weshalb ich finde, dass man kommunizieren sollte…
Ich glaube, dass ich in meinem Beitrag deutlich gemacht habe, dass ich gegen jede Form von Gewalt bin und selbstverständlich auch Gewalt durch Rechte ablehne. Dagegen braucht es Haltung, Grenzen und ggf. auch entsprechende Strafverfolgung. Ich habe nichts davon geschrieben die Taten von Nazis zu liberalisieren und ich gehe auch nicht davon aus, dass man bei jedem Menschen mit ausreichend Willen den guten Kern hervorkramen kann. Ich habe auch erklärt, weshalb man mit Spaziergängern reden sollte: Weil eben bei weitem nicht alles Nazis sind und ich behaupten möchte, dass sogar der Großteil der Teilnehmer selbst rechtes Gedankengut ablehnt. Diese Menschen laufen mit einer ganz anderen Not und Angst bezüglich der aktuellen Lage und der drohenden Impfpflicht, die wichtig ist in einer Demokratie gehört zu werden. Es geht mir nicht darum Kriminellen eine Plauderplattform zu bieten oder ihre Ideologien zu würdigen. Ganz im Gegenteil! Entsprechend fern steht es mir Opfer und Überlebende derart herabzuwurdigen, wie du es in deinen Schilderungen getan hast. Das ist dein Kopfkino. Weder habe ich so geschrieben noch jemals so gefühlt und gedacht.
Ich erachte es in meinem Leben als hohes Gut mir meine Menschlichkeit erhalten zu haben und trotz der eigenen erlittenen Grausamkeiten weiterhin mit offenem Herzen durchs Leben und in den Kontakt zu anderen Menschen zu gehen. Eine gewisse Demut gegenüber der eigenen Fehlbarkeit schadet ebensowenig. Das hat nichts damit zu tun bittere Realitäten schön zu schmusen oder Gewalt gut zu heißen, sondern führt aus meiner Sicht dazu genau zu differenzieren und zu Gewalt noch viel deutlicher nein zu sagen und entsprechende Konsequenzen zu ziehen.
Ich halte deinen Ausdruck hier mir gegenüber für völlig unangemessen und persönlich übergriffig! Da habe ich eine klare Grenze und da gibt es für mich auch nichts gut zu heißen dran. Wir können uns hier austauschen und im Rahmen vernünftiger Umgangsformen auch sachlich, kritisch diskutieren. Einen weiteren Kommentar dieser Qualität werde ich allerdings nicht frei schalten.
Guten Morgen Sofie,
schade, dass du meine Fragen an dich als Angriff empfindest. Es hat mich interessiert, wie du sie dir beantwortest. Aber wenn du dahinter keine Frage, sondern einen Trick, um dich zu beschämen vermutest, dann, ja, dann hat es keinen Sinn, mit dir ins Gespräch zu kommen.
Um es mit deinen Worten zu sagen: „Wenn wir nicht mit ihnen spazieren würden und ins Gespräch kämen, wüssten wir nicht dass es sie gibt und ob sie das sind, wofür wir sie als Alltagspersonen auf den ersten Blick halten. Wer macht sich die Mühe auf den aktuellen Corona-Spaziergängen, die Teilnehmer erst einmal zu sortieren!?“ – Ja, man muss auch Kommentator_innen sortieren, prüfen, wer was warum und wie kommentiert und bereit sein anzuerkennen, dass nicht jede kritische Frage eine Kritik an sich als Person ist.
Ich habe nicht intendiert, mich über dich zu erheben. Ich glaube nicht, dass ich etwas besser mache als du, ich weiß, dass ich einiges anders mache und denke als du. Aber das ist auch schon alles.
Aber naja, wie ich etwas WIRKLICH meine und warum ich etwas IN WAHRHEIT schrieb, das entscheidest ja allein du mit deinem großen Herz. Weil „Das Herz hilft da, wo der Verstand ohnmächtig wird.“, hm?
Alles Gute trotzdem.
Liebe Sofie, ich bin stark beeindruckt von deiner Reaktion, deinen Worten und deinen Umgang damit. So zu reagieren bei so einer geballten Wucht, wow das ist ganz stark. Ganz klasse.
Sehr beeindruckte Grüße Lisa
Danke! ❤️
Liebe Sofie
Vielen lieben Dank für deinen/euren Blog im Allgemeinen und besonders für diesen Beitrag.
Für das Aussen gilt hier sehr wohl, dass unterschiedliche Meinungen akzeptiert werden können, so lange die Meinungen friedlich und mit gegenseitigem Respekt vor der jeweilig anderen Meinung kund getan werden.
Man sieht darin auch keinen Schulterschluss, denn die Menschen, die es (zumindest hier) derzeit zum Spaziergang „treibt“, sind zum einen Kollegen von der Arbeit, zum anderen aber auch Nachbarn.
Keinen würde man persönlich als Nazi bezeichnen.
Beeindruckt ist man, dass es dir und euch gemeinsam zu gelingen vermag, das Aushalten anderer Meinungen im Inneren auszuhalten und in gemeinsamen Dialog miteinander zu treten.
Dafür der grossen Respekt.
Man wird diesen euren Beitrag, wie auch viele andere, immer wieder lesen, bis es hoffentlich auch im Inneren ankommen mag.
Liebe Grüsse
Hallo ihr Lieben,
vielen herzlichen Dank für diese liebe Rückmeldung! 🤗
Im Innen sind wir mit dem Aushalten anderer Meinung keinesfalls perfekt. An manchen Stellen schaffen wir es inzwischen, wohl auch, weil wir gemerkt haben, dass uns das alle sehr viel weiter bringt und Spannungen deutlich reduziert. Es gibt aber natürlich auch immer wieder die Tage und Situationen, an denen wir uns gegenseitig an den Kragen gehen könnten, weil uns einfach alles zu viel ist und keine Toleranz oder Geduld vorhanden ist. Dann würden wir den empfundenen „Feind“ manchmal gerne auslagern und bekämpfen, aber letztlich bleibt im Innen ja nur die Chance sich irgendwie langfristig zusammenzuraufen. Es menschelt bei uns aber auch im Innen. 😉 Wir geben unser Bestes und dürfen da sicher in Zukunft noch viel über ein gutes Miteinander lernen!
Ganz liebe Grüße zurück!
Sofie und die bunten 🦋
Ganz liebe Grüße zurück! 🤗