
Wir sitzen in unserer Stube und denken nach. Gerade eben hat sich ein Weinschauer in seiner ganzen Wucht entladen. Die Anspannung war enorm. Nun sind wir einigermaßen erschöpft, aber etwas ruhiger. Ein bisschen sind wir stolz auf uns, dass wir es inzwischen deutlich besser schaffen mit Gefühlen umzugehen, als noch vor einigen Jahren. Die größte Hürde bei der Versorgung war oft, dass wir uns selbst nicht getraut haben uns ernst zu nehmen, wenn es keine gute Erklärung gab, weshalb wir so fühlen. Gedanklich waren wir dann die ganze Zeit im Kopf und haben versucht die Hintergründe zu erfassen, statt den Teil zu versorgen, der sich eben gerade zeigt. Waren wir mit der Suche nach den logischen Gesichtspunkten nicht erfolgreich, dann blieb in der Zwischenzeit auch das Gefühl im Regen stehen.
Irgendwie dachte ich lange, man müsse sich und seine Emotionen erklären können. Inzwischen halte ich diese Einstellung für eine weitere Konditionierung aus Traumazeiten. Früher gab es seitens der Erwachsenen keine Daseinsberechtigung für unsere Gefühle und wenn, dann brauchten sie einen verdammt guten Grund. Einfach so losheulen oder schreien, hätte uns das Leben kosten können. Also immer erst nachdenken, reflektieren und dann nur das zeigen, was sich als Ausschnitt der inneren Wirklichkeit als würdig und überlebbar erweist. Manchmal denke ich darüber nach, ob dieses Gefühl an meinen Emotionen zu sterben und völlig überrollt zu werden, wenn ich sie zulasse, nicht auch dort seinen Ursprung findet. Immerhin war es die damalige Umgebung, die sie mir als inneren Feind verkaufte, statt als Verbündete, die mir beim Überleben helfen.
An Feiertagen tat ich mich oft doppelt schwer. Ich merkte auf körperlicher und emotionaler Ebene oft lange vor den Erinnerungsbildern, dass es mir hundeelend ging. Der Verstand war vor Verzweiflung nahezu am Durchdrehen, weil ihm dissoziationsbedingt die Erklärung für so manche Zustände fehlte, obwohl sie ja zweifelsohne da waren. Ohne Erklärung wiederum sah ich mich außer Stande oder berechtigt irgendetwas halbwegs unterstützendes für mich zu tun. Auf den Gedanken mich einfach nur auf das vorhandene Gefühl oder Körperempfinden einzulassen, mir innerlich kurz zurückzumelden, dass ich die Not, den Schmerz die Angst, etc. sehe und mich damit ernst zu nehmen bin ich lange nicht gekommen. Letztlich spielt es dabei nach meiner heutigen Erfahrung überhaupt keine Rolle, ob es um eine alte Erfahrung geht oder eine aktuelle oder eine Mischung aus beidem. Es braucht das Versorgung, was da ist. Und da ist es im „Hier und Heute“ egal welcher Ursache, sonst könnte ich es ja nicht fühlen… Wo sonst soll ich etwas in meinem Körper wahrnehmen, wenn nicht im jetzt!? Der lebt ja nicht mehr 19hundertirgendwas, sondern ist im Jahr 2022 angekommen. Alleine dadurch stimmt für uns in Sachen Gefühle das Präsens. Man kann in Vergangenheit und Zukunft auf einem Zeitstrahl denken, aber man kann aus unserer Sicht nur im Jetzt fühlen.
Ganz abstellen kann ich die Suche nach Erklärungen für Gefühlszustände selbst nicht. Trotzdem bemühe ich mich darum jeden einzelnen erst einmal so ernst zu nehmen, wie er ist und sage mir, dass er alleine dadurch für mein System Sinn macht, dass er überhaupt auftaucht. Ich verstehe vielleicht noch nicht alles und ich kann die emotionale Reaktion nicht erklären, aber sie ist da und es alleine deshalb wert beachtet zu werden.
Tatsächlich brauchen Gefühle keinerlei Erklärung! Dass du so fühlst ist Grund genug! Vielleicht kommt etwas altes hoch. Vielleicht reagierst du aber auch auf etwas aktuelles. Vielleicht beides. Egal woher die Gefühle kommen, sie sind jetzt da und haben alleine dadurch für dich Sinn. Das muss der Verstand nicht zwingend verstehen. Gefühle waren nie für unseren Verstand gemacht, sondern dafür dein Überleben auf viel tieferen Bewusstseinsebenen zu sichern.
Wenn du Angst hast oder dich schlecht fühlst, ist das so. Wenn die Tage schwer sind, sind sie das. Punkt. Egal ob du im Jetzt rein logisch eine ausreichende Legitimation findest oder nicht. Melde deinem Innen zurück, dass du bewusst wahrgenommen hast, dass etwas enormen Stress auslöst. Atme kurz durch. Sei bei dir. Oft entspannt sich die Situation alleine dadurch schon etwas. Wo im Körper fühlst du dieses Gefühl im Moment am stärksten? Atmen. „Ich sehe mich/dich“. Zieht es dich intuitiv weiter, OK – folge. Wenn nicht, auch in Ordnung. Gibt es zu dem Gefühl ein Bedürfnis? Kannst du es in irgendeiner Form erfüllen? Lasse dich von dem Prozess und deinem Körper durch den inneren Dialog führen.
Versorge das was du wahrnimmst! Schenke dir deine Aufmerksamkeit ohne dich mit dem Gefühl wegmachen zu müssen. Das ist der Teil deiner Wahrheit der jetzt für dich wichtig ist. Er wird dich wie ein roter Faden auch zu anderen Einsichten führen, wenn es richtig und an der Zeit ist.
Liebe Sophie
Du sprichst und schreibst mir so aus dem Herzen. Das kenne ich auch so gut. Die Lösung, die du aufzeigst, lernte ich beim Meditieren, weil ich dort jahrelang im JETZT sein übte und Akzeptieren, vom dem, was da ist. Für mich ist das die einzige Möglichkeit, Gefühle zu verändern.
ich erklärte auch immer meine Gefühle und wurde so oft nicht verstanden. ich sezierte mich noch mehr (also noch mehr nach Gründen (denken) für meine vielen, „komischen“ Gefühle suchen) und es nützte keinen alten Hut. Ich blieb meist unverstanden.
Als mich vor Ostern eine Fachperson fragte, weshalb ich nicht früher selber merkte, dass ich eine DIS habe, war ich sprachlos;……………… für mich war immer normal, verschiedene Innenpersonen zu haben, unter anderen ganz viele sehr kleine Kinder, welche auch unterschiedlich fühlen und sich äussern!
Dass das andere nicht haben, und dass das nicht normal sein soll; ich wusste es nicht, da ich oft dissoziiert bin/war.
Trotz vielen Psychotherapien war keine Fachperson früher auf die Diagnose gekommen. und ich hätte es wissen sollen. Wie auch??
Liebe Ostergrüsse trotz allem alten
Leonia
Liebe Leonia,
schön, wenn wir euch damit so erreichen konnten! 🤗 Wir freuen uns über deine Rückmeldung und deine Erfahrungen dazu!
Was die Fachperson und die Selbstdiagnose angeht: Äh… erstens, eben weil man sich ja wie du sagst nur so kennt, wie man ist. Die Selbstwahrnehmung ist immer anders, als die Fremdwahrnehmung. Und zweitens sind Diagnosen nicht dein Job sondern ihrer! Umgekehrt wird sich von Fachpersonen dann wieder aufgeregt, wenn man schon mit irgendeiner Selbstdiagnose kommt. Das wird erfahrungsgemäß auch eher schlecht angenommen.
Liebe Grüße und einen schönen Tagesausklang!