Balkonwindzauber

Als ich auf die ersten Balkonbretter vor der Türe trete, fühle ich mich, als würde der Wind eine dicke Wolke über meinem Kopf wegblasen. Er ist mild. Milder als gedacht. Die kalte Feuchtigkeit nimmt mich überraschend freundlich in ihre Mitte. Mich fröstelt kaum. Es riecht erdig. In meine Nase steigen die Gerüche der Kräuter und Gräslein. Gemolken vom Wetter verbreiten sie ihren würzig ätherischen Duft. Ich atme. Einmal. Zweimal. Freiheit. So schnell. Innerhalb kürzester Zeit fühle ich Leben in meine Adern strömen. Ich bin überrascht. Denn gerade noch fühlte ich mich wie eine lebende Leiche. Bleischwer, in den Sessel gedrückt von bangen Gliedern. Von der Verzweiflung ausgesogen wie von einem Dementor. Jedes Glück dem inneren Grauen gewichen. Nun also stehe ich mit meiner Sweat-Jacke und einer alten, griffbereiten Hose draußen. Meine Lungen füllen sich mit Sauerstoff. Das Gehirn beginnt langsam klarere Bahnen einzulenken. Die Watte schmilzt wie Zucker unter Energiezufuhr von außen. Langsam fällt sie in sich zusammen. Noch ist mein Sichtfeld unscharf. Die Welt erscheint verschwommen. Doch ich höre. Vogelzwitschern dringt an mein Ohr. Ich erlebe mich in mitten eines kleinen Wunders, das vielleicht nur kurz verweilen mag und doch jeden Augenblick wert ist.

Die Blütenpracht der Bäume um mich leuchtet. Ich versuche langsam meinen Blick zu fokussieren. Die Taube gurrt. „Kann man von falschen Menschen versorgt werden, wenn sie einen versorgen?“, schiebt sich ein Gedanke in den Moment. „Man kann“, antworte ich mir innerlich, doch darüber möchte ich jetzt nicht nachsinnen. Ich will einfach nur meine Ruhe. Die Synapsen in den Wind hängen. Atmen. Natur spüren. Mich darin finden. Sonst nichts. Der Wein beginnt erste Blätter zu treiben, Efeu bildet neue Ranken und die Läuse haben es anscheinend auch nicht früh genug dieses Jahr an meine Pflanzen schaffen können. Grüner Pelzbesatz zehrt an der eben erst austreibenden Rose. „Na, warte…!“ Mit einer Sprühflasche voller Spülmittellösung mache ich mich ans Werk. Ein altes Hausmittel, das in dem Fall zuverlässig hilft. Lange schaffe ich es nicht draußen zu bleiben. Die Kraft ist dann doch nicht da. Doch es waren lebenswerte 10 Minuten. Ich streife mit den Sinnen durch die Balkonkästen. Die Melisse kommt wieder. Sie treibt dick grün von unten. Die Erdbeerfee meint es ebenfalls gut mit mir. Ihre kleinen Schützlinge, setzen zu neuem Wuchs an. Manches ist über den Winter auch endgültig vergangen. Trocken und ausgelaugt wird klar, dass mich ein Teil der Pflanzen im neuen Jahr wohl nicht mehr begleiten wird. Mit den Händen streife ich über die Nelken und das Moossteinbrech. Es bildet neue Polster.

Ein bisschen Demut und Dankbarkeit umfässt mich, als meine Sinne immer mehr eins werden mit den Pflanzenfreunden und ihre Kraft aufnehmen. „Ich habe meine Winter bislang immer überlebt“, denke ich. „Egal wie tief, schwer und lang sie waren.“ Wir atmen. Gemeinsam. „Möge unser Frühling bald kommen!“

4 Kommentare zu “Balkonwindzauber

  1. So einen Moment, vielleicht 10 Minuten, hatte ich neulich. Das erste Mal bemerkt. Es ist Frühling, strahlend blauer Himmel, Bäume die blühen. Mich hat es umgehauen, positiv. Die Kälte, der Winter ist vorbei. Wie schön ist das alles was ich sehe, fühle und rieche. Ein kurzer sehr schöner Moment.

    • Ach, ist das lieb! Das ist ein sehr schönes Bild, das du da mit deinen Worten gemalt hast. Da möchte ich mich glatt daneben setzen und auch mit plaudern und schleckern.
      Von herzen Dankeschön und ganz liebe Grüße!

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