Ich drehe am Rad und am Deckel des kleinen Medizinfläschchens.
Die Plastiksicherung knackt, wie erwartet, beim ersten Öffnen. Sanft, aber hektisch, drücke ich den Gumminupsi zum Befüllen der eingebauten Pipette in der Verschlusskappe zusammen. Meine Zunge zählt: „Ein Tropfen, zwei Tropfen, drei Tr… ach egal! Ich nehm‘ einfach die ganze Füllung!“ Noch ehe die Flüssigkeit meinen Gaumen benetzt hat, erwarte ich ihre Wirkung. Entspannung! Ausgleich! Entlastung! Aber flott!!!
Meine Schleimhäute machen derweil Bekanntschaft mit dem Trägerstoff der Arznei – Alkohol und fühlen sich eher weniger beruhigt. Während meine Gedanken versuchen sich an einer Notfallstrickleiter entlang zu hangeln, frage ich mich, weshalb sich dieses Gebräu eigentlich „Rescue Tropfen“ nennen darf, wenn sich im Ernstfall nicht sofort etwas tut. Ich verwerfe meine Überlegungen diesbezüglich und Schlucke.
Die Tropfen, die Bitterkeit, die Tränen.
Weshalb geht‘s uns grad eigentlich so? 🤔
Das Christkind war da. Es war brav, hatte Geschenke dabei und hat uns vor allen Dingen dieses Jahr nicht vergessen. Erinnerungen habe ich grade keine. Zumindest keine Bilder. Dennoch stehe ich unter Druck, wie ein Dampfkessel auf der Flucht.
„Was ist los?“, frage ich nach innen.
Wenig Antwort. Nur der Wunsch nach Ruhe.
„Ich hab euch lieb“, flüstere ich durch die dicken Nebelwände.
Die Zeit steht still.
Der Körper ist taub.
Ich bin raus…
Körperauszeit ehe ich mich zurück ins Leben brülle:
„Du Arschloch! Du verdammtes Arschloch! Ihr miesen Verräter!“
Aus der Krippe fließt mein Blut. Die Bilder sind hinter der Schutz-Wut—Mauer.
Einsamkeit
Redetropfen
Die Regentropfen rutschen im Frühlingsgrau die Scheiben hinunter und sammeln auf Ihrem Weg andere Wassertropfen, die ihre Rinngeschwindigkeit sprunghaft beschleunigen. Unten angekommen werden sie zum Regenfensterbrettbächlein, dass Zielsicher auf die Regenrinne zusteuert.
Spaß. Spiel. Naturgesetz.
Durch die wassernassen Scheiben verschwimmt mein Blick und lässt die Häuser der Nachbarschaft unscharf erscheinen.
Im Innen bewegen sich kleinere Innenpersonen müde in den Tag.
Mir ist kalt. Die imaginierte Decke wärmt nicht, drum hole ich mir eine andere. Eine echte. Eine zum Anfassen und begreifen.
Entgegen dem Fluss der Wassertropfen erlebe ich selbst gerade kraftlose Stagnation.
Meine Gefühle sind irgendwo eingefroren und drängen trotzdem mit ihren Eismassen an die Oberfläche.
Die Abschlussprüfungen stehen kurz bevor und ich schleppe mich Mühsam vorwärts, wie der Kämpfer, der kurz vor dem Ziel zusammen gebrochen ist und eigentlich nicht mehr kann.
Der Kopf mag nicht mehr lernen und das Herz nicht mehr schweigen.
Mir ist danach Worte zu finden, für das was uns zugestoßen ist und mit meinem Viele-sein darüber zu sprechen.
Und dann sehe ich in die erschrockenen Gesichter der Menschen, die nicht mal ansatzweise von all dem wissen und trotzdem überfordert sind von der bloßen Andeutung, dass wir Gewalt erlebt haben. Die scheinende Sonnenworte mögen, aber nicht die grauschillernden Redetropfen.
Ich höre ihr mal lautes und mal stummes: „Ich halte das was du erzählst nicht aus.“
Und manchmal frage ich mich, warum verdammt nochmal die sich nicht einfach zusammenreißen können. Schließlich ist es mir passiert und nicht ihnen.
Und ich spüre mein Misstrauen und die Vorsicht denen gegenüber, die mir ein offenes Ohr anbieten, weil ich Angst habe, letztlich doch wieder verlassen zu werden, wenn sie wüssten…
Und dann schreibe ich eine Zeile und lösche sie wieder und schreibe eine neue und lösche sie wieder und dann…
… rinnen mir einfach die Tränen über die Wangen, weil ich das Kind fühle, dass sich so schrecklich einsam fühlt und mit ihm auch ich und so gerne reden würde und einfach nicht mehr schweigen will und die Isolation hasst, in die es gedrängt wird und irgendwie nirgendwo wirklich ankommt.
Die Regentropfen laufen die Scheiben hinunter und meine Tränen tun es Ihnen auf meinen Wangen gleich.
Wo ist der Platz wo wir ganz sein dürfen?