Vor vielen, vielen Jahren, bei unserer ersten kompetenten Therapeutin, bekamen wir von Ihr das Buch „Trotz allem“ zum lesen ausgeliehen. Was wir damals daran so besonders toll fanden, ist die Tatsache, dass uneingeschränkt an die Erinnerungen der Betroffenen geglaubt wurde. Das selbst dann vertrauen in die Gefühle bestand, wenn konkrete Erinnerungen fehlten und die Überlebende „nur“ einem innerem Instinkt folgte. Damals waren meine Zweifel noch deutlich größer und übermächtiger im Vergleich zu heute. Nur kleine diffuse Bruchstücke drangen durch das Schwarz meines Erinnerns. Der klare Standpunkt der Autorinnen erleichterte es mir meinen Weg zu finden und mich auf mich selbst einzulassen. Um zu begreifen was meine eigene Geschichte ist, war und ist es für mich elementar wichtig, dass es Menschen um mich gibt, die für mich die Fahne hochhalten und glauben, wo ich selber vor Verwirrung gar nichts mehr glauben kann. Das Buch war damals ein Teil davon. Nur so konnte ich überhaupt kritisch hinschauen, was in meinem Kopf los ist und mir selbst ein Bild davon machen, was ich letztendlich glaube. Mit Wischiwaschi-hätte-wenn-könnte-wäre-Aussagen, wäre ich keinen Schritt weiter gekommen. Es war das „Du schaust dir das jetzt an und deine Meinung kannst du danach immer noch ändern, weil ich daran glaube, dass an deinen Bildern was wahres dran ist“, das mich hat wachsen und erkennen lassen.
Nun hielt ich gerade die neue Auflage von „Trotz allem“ von Ellen Bass und Laura Davis in den Händen und stellte mit bedauern fest, dass die Eindeutigkeit an manchen Stellen gewichen ist. Man ist vorsichtiger in den Aussagen geworden. Als Leserin habe ich Eindruck bekommen, dass auch hier die Debatte um „Falsche Erinnerungen“ zu einem Zurückrudern in der Eindeutigkeit geführt hat. „Überlebende werden sich zwangsläufig etwas ungenau an die Einzelheiten des Missbrauchs erinnern“, heißt es etwa im Kapitel „Die Grundlegende Wahrheit der Erinnerung“. Nein! werden sie nicht! Wir haben durchaus sehr genaue Erinnerungen! Zwar werden die Erinnerungen und Gefühle an dieser Stelle noch als Hinweis für etwas genommen, was passiert ist und sehr verletzt hat. Dass es Eins zu Eins so war, wird allerdings in Frage gestellt. So wird auf Seite 138 ausgeführt: „Manche Frauen Erinnern sich nicht, weil es keine physischen Übergriffe gab. Stattdessen warst du vielleicht einer Atmosphäre, unangemessener Grenzen, anzüglicher Blicke oder einem unangebrachten romantischen Verhalten ausgesetzt.“ Unterlegt wird die Behauptung mit dem Beispiel einer Betroffenen: „Ich war drei Jahre lang in Therapie und habe geforscht, in Erwartung eine Vergewaltigung oder ein anderes Ereignis aufzudecken, wo er mich tatsächlich belästigt hat. Doch er hat nichts dergleichen getan. Es war alles emotional.“
Wir finden solche Aussagen mehr als schwierig, zumal wir denken, dass sich eine Frau nicht vergewaltigt fühlt, weil die Atmosphäre nicht stimmt. Außerdem würde mich an der Stelle interessieren, wie die Frau zu der Einsicht kam, dass es letztlich nicht so war. Nur weil sich eine bildhafte Erinnerung nicht zeigt, belegt das nicht die Unrichtigkeit von Gefühlen. Wenn der Körper nicht weiß, was es bedeutet vergewaltigt zu werden, wird keine Frau der Welt plötzlich in jeder ihrer Körperzellen genau das fühlen können. Wie soll ein Körper speichern, was er nicht kennt!?
Über die Aussage „Langfristig ist es besser, deine Ungewissheit anzuerkennen, als vorzeitig etwas zu benennen, dessen du dir nicht sicher bist“ (S.139) könnten wir dann nur noch kotzen. Die Täter werden sich freuen und das Opfer kommt keinen Schritt mehr vom Fleck, weil es sich mit seinen Gefühlen nie Vertrauen darf, oder wie!? Genau diese Vertrauen braucht es doch aber, um irgendwann Sicherheit finden zu können. Egal wie sie am Schluss aussieht.
Es braucht Klarheit! Es ist wichtig zunächst davon auszugehen, dass es genau so war, wie es erinnert wird und von diesem Standpunkt weiter zu gehen. Anders kann man Verzerrungen, sofern sie überhaupt vorhanden sind, nicht aufdecken.
Aus einem Buch, dass vorher uneingeschränkt empfehlenswert war, ist durch das angepriesene „Überarbeitungs- und Zusatzmaterial“ in der Neuauflage ein Eiertanz geworden, bei dem klare Aussagen sich doch selbst zu vertrauen und zu glauben, im nächsten Moment wieder untergraben werden.
Ein Großteil des Inhaltes ist empfehlenswerter Lesestoff zum Thema Missbrauch, sofern man die Verunsicherung ausblenden kann, die den Weg ins Buch geschafft hat.
Diese Entwicklung finden wir sehr schade!