
Seit Tagen lässt sich international der Gerichtsstreit zwischen Johnny Depp und Amber Heard live aus dem Gerichtssaal mitverfolgen. Amber Heard wirft Johnny Depp häusliche und sexuelle Gewalt vor. Die Washington Post hatte in einem Artikel über die Gewalt berichtet, allerdings ohne seinen Namen zu nennen. Dennoch fühlt der Fluch-der-Karibik-Schauspieler sich dadurch in seiner Karriere negativen Konsequenzen ausgesetzt. Nun klagt er wegen Verleumdung und behauptet seinerseits wärend der Ehe Gewalt durch seine Ehefrau erlitten zu haben. Wie so oft geht es auf beiden Seiten auch um beträchtliche finanzielle Summen als Schadensersatz von mehreren Millionen US-Dollar. Diesen Beitrag schreibe ich nicht mit der Intention zu zerlegen, wer von beiden am Ende recht hat. Persönlich glaube ich in diesem Fall, dass beide Seiten einen Funken der Wahrheit berichten, aber jeweils den ganzen Kuchen für sich beanspruchen wollen. Ganz abgesehen davon stört mich aber der Umgang der Öffentlichkeit mit den durchaus prekären Themen, die in dem Verfahren angesprochen werden.
Zuschauer auf der ganzen Welt sitzen vor ihren Mattscheiben und schauen reißerisch auf die Bildschirme, um sich persönlich an einem Verfahren zu ergötzen, bei dem es unterm Strich um mutmaßliche Gewaltopfer und -täter geht, die über die Medien vorgeführt werden. Ihr Bekanntheitsgrad und die Höhe ihres Einkommens ändert daran nichts. Wer hat die besseren Anwälte? Wer würgt wem besser eine rein? Was gibt es für „lustige“ Szenen im Gerichtssaal, weil Johnny Depp das Gefühl für den Ernst der Lage fehlt oder der Psychiater von Amber Heard selbst wirkt, als könnte er einen Nervenarzt gebrauchen? Wer hat die besseren Zeugen, die klügere Taktik, den längeren Atem, die bessere Maske und das passendere öffentliche Funktionsniveau? Wem mag man persönlich aufgrund der Aussendarstellung mehr Sympathie schenken? Das alles ist aus meiner Sicht keine Haltung, die eine Gesellschaft für den Umgang mit Gewalt qualifiziert. Ich halte es für ein Desaster, dass wir eine derartige Ausschlachtung überhaupt zulassen.
Wenn auch nur ein Bruchteil von dem stimmt, was Amber Heard sagt – und mindestens die Drogenexzesse von Depp mit ihren Auswirkungen halte ich für unstrittig – dann sitzt da eine misshandelte Frau, mit einer psychologisch bescheinigten Posttraumatischen Belastungsstörung, die sich von jedem dahergelaufenen Menschen dumm anglotzen und bewerten lassen muss. Gleiches gilt umgekehrt. Sofern Johnny Depp in der Ehe zum Opfer von Gewalt geworden ist, dann muss er es jetzt auch noch ertragen, wie seine Privatsphäre mit Füßen getreten und seine gesamte Familiengeschichte auf den Tisch gezerrt wird. Ein Umstand der für beide Parteien gilt, scheint der zu sein, dass beide schon vor den gemeinsamen Erlebnissen in der Ehe Brüche in ihrer Vorgeschichte erlitten haben. So berichtet Depp unter anderem von den Prügelattacken und der „Grausamkeit“ seiner Mutter seit früher Kindheit. Auch Heards psychologisches Profil spricht für Vorerfahrungen und sie berichtet ebenfalls von komplexen Traumatisierungen in der Kindheit. Beide haben also eine Vorgeschichte, die die Beziehungsfähigeit stark beeinflusste.
Die gesellschaftlich relevanteren Fragen, die wir uns im Zusammenhang mit diesem Fall stellen müssten, sind nicht, wer von beiden am Ende recht hat und mehr Sympathien auf seine Seite zieht. Wir haben hier jeweils Opfer und Täter in einer Person. Zwei Menschen mit erlittenen Grenzverletzungen, die später selbst Grenzen verletzen. Statt einzuordnen wer von beiden der bessere „Schauspieler“ ist, sollten wir den Fall zum Anlass nehmen darüber nachzudenken, wie wir künftig mit Gewalt und ihren Folgen umgehen wollen. Statt Sensationsgeilheit wäre Demütigkeit gegenüber der Situation angebracht, denn derartige Taten – Gewalt – betreffen nicht nur die Reichen und Schönen in Hollywood, sondern täglich unser aller Miteinander. Welche Hilfsangebote machen wir? Denn über dem coolen Glamour-touch der Berichterstattung geht völlig unter, dass wir dort eigentlich zwei wirklich geschädigte Persönlichkeiten haben und daran ist so gar nichts schick! Wo trügt uns der Schein und Äußerlichkeiten immer noch über die tatsächlichen Inhalten hinweg? Wo lassen wir uns ablenken vom eigentlichen, weil wir die Dramatik dahinter nicht sehen wollen? Wo geben wir Gewalt einen Anstrich von Coolness? Wo lassen wir Klischees unsere Wahrheit bestimmen? Warum geht es im Vordergrund um die Karriere, wo es doch eigentlich um Menschenleben und innere Gebrochenheit geht? Wo werden frühere Gewalterfahrungen genutzt, um später eigene Übergriffigkeiten zu rechtfertigen und wieso lassen wir das zu? Ob Johnny Depp von seiner Mutter verprügelt wurde, spielt in diesem Verfahren eigentlich keine Rolle. Das belegt überhaupt nichts davon, wie er später mit seiner Ehefrau umgegangen ist. Dennoch wurde lange und ausgedehnt darüber gesprochen. In welche Schubladen stecken wir Menschen mit psychiatrischen Diagnosen? Ganz gleich, ob bei Amber Heard eine Borderline Persönlichkeit vorliegt, wie sie die Gerichtsgutachterin beschreibt oder nicht, heißt das ja noch längst nicht, dass Borderliner ganz automatisch auch gewalttätig gegenüber ihren Mitmenschen werden. Eine forensische Psychiaterin gibt in ihrer Aussage an, dass eine Posttraumatische Belastungsstörung und Funktionalität nicht vereinbar wären. Wir haben offenbar weltweit auch in der Fachwelt noch viel Nachholbedarf was Wissen im Bezug auf komplexe posttraumatische Störungsbilder und Dissoziation betrifft!
Es gibt noch so viele Fragen und viele wichtige Auseinandersetzungen, für die man dieses Verfahren als Anstoß nehmen könnte. Kaum eine davon wird derzeit gestellt. Stattdessen starrt man mit einiger Oberflächlichkeit auf den Gerichtsprozess und nutzt ihn als heitere Projektionsfläche, um der ernsthaften Auseinandersetzung mit Gewaltthemen zu entfliehen. Denn das beherrscht Johnny Depp hervorragend – die Maske von unbeteiligter Lächerlichkeit über die eigentliche inhaltliche Schwere zu legen.
Gewalt ist keine Sensation. Sie ist ein Verbrechen!