Einen Teelöffel Worte

Ich sitze hier und nuckle kopfüberfüllt am Strohalm der Capri-Sonne mit Orangengeschmack. Genau genommen ist es keine echte, sondern eine billigere Variante und noch genauer genommen habe ich längst den Überblick verloren, wer hier eigentlich in diesem Moment alles sitzt. Das angebliche Fruchtsaftgetränk schmeckt. Jetzt ist es zu allem Überfluss aber leer.
Ich werfe das ausgesaugte Plastikdingens unachtsam vor mich auf den Tisch. Meine Hände suchen im Kühlschrank hinter mir nach einem Joghurt. Sie finden ihn schließlich auf der obersten Ebene. Während kleine Finger mit Mühe die Abdeckfolie aufziehen und beginnen mit dem Teelöffel in der Creme-Matsche mit Mandeln herumzustochern, weil sie weder aussieht noch schmeckt wie Fruchtzwerge, begegnen sich im Innen unsere Gedanken.

„Na, heute schon gelebt?“, fragt mich ein Jugendlicher flapsig.
Die Frage kommt irgendwie überraschend. „Öhm, naja, also,… wie man’s nimmt“, antworte ich.
„Gut, dass du das so genau weißt“, lacht er. „Wie kommt’s, dass du hier drin rumhängst?“
„Ja, wie kommt das eigentlich?“, denke ich für mich selbst noch einmal. „Irgendwie war da die Limo, das Joghurt und ein stiller Moment und dann wollte ich einfach mal sehen, was in mir so los ist.“
Während ich weiter versuche mich auf das Gespräch zu konzentrieren, machen sich Kopfschmerzen und Müdigkeit breit. Ich wandere mit dem Laptop zum Bett. Die Katze war vor mir da und hat größere Teile davon bereits besetzt. Ich kuschle mich dennoch dazu.
Über den Kopfschmerzen verliere ich den direkten Draht nach innen. Für mich wirkt alles Durcheinander. Für andere Innens scheint es geregeltes Chaos zu sein.
Je bewusster ich versuche mir Zeit für das „Wir“ zu nehmen, umso schwieriger wird es jedoch. Meine Augen beginnen zu krampfen und zu zucken. Bald will ich einfach nur noch schlafen.
„Ich wünsche allen eine gute Nacht“, verabschiede ich mich.
Ein kleines „Gute Nacht“ hallt zurück.
Dann beende ich das bewusste Gespräch, rutsche einfach aus meiner sitzenden Position nach unten und lege mich zum Ausruhen auf die Seite.
Es ist spät und ich kenne den Mechanismus bereits. Für heute gebe ich nach.
Morgen ist ein neuer Tag, mit einer neuen Chance sich kennen zu lernen.

Darüber reden können wir, wenn Sie stabil genug sind…

Aus unseren Therapieversuchen kennen wir Aussagen, wie: „Du darfst jetzt nicht darüber sprechen. Das wäre nicht der richtige Zeitpunkt. Das wäre gerade zu schwer.“
„Für wen?“, wollten wir dann oft gerne nachfragen. „Für uns oder für Sie!?“
Wir dürfen nicht über unsere Vergangenheit sprechen, werden wieder zum Schweigen gezwungen und es wird uns auch noch als Fürsorge verkauft. Dabei hatten wir da nicht selten das Gefühl, dass es eher die Therapeutin ist, die jetzt Angst bekommt, was ihr da so erzählt werden könnte und versucht sich so zu retten.
Es ist ohne Frage nicht sinnvoll tief in die Erinnerungsarbeit einzusteigen, wenn man gefahr läuft dabei wegzudissozieren. Das bringt nicht nur nichts, weil es das Gehirn nicht im Bewusstsein halten und einordnen kann, sondern kann auch retraumatisieren.
Aber grundsätzlich zu verbieten darüber zu reden, bis man völlig stabil ist, ist auch keine Lösung.
Es entmündigt. Es spricht der PatientIn ab, dass sie selber in der Lage ist ihre Grenze einzuschätzen und zu fühlen, was hilfreich ist. Wo kennen wir das gleich nochmal her!? Richtig, von den Tätern.
Wir wären heute sicher schon nicht mehr hier, wenn wir in manchen Situationen nicht einfach mal hätten ausdrücken können, was in unserem Kopf ist. Manchmal war es sogar die letzte Rettung, wenn wir völlig instabil und selbstmordgefährdet waren, weil wir dann das Wirrwarr im Kopf mit unserer Therapeutin zusammen wieder etwas ordnen und schlimmeres verhindern konnten. Weil wir darüber begreifen konnten, warum wir gerade wie reagieren und darüber Lösungen gefunden werden konnten. Drum sind wir dafür, dass auch in frühen Phasen der Therapie Erinnerungsinhalte mit einbezogen werden und der sichere Rahmen für das Gespräch darüber gemeinsam gefunden wird und nicht nach Schema „X“. Der stabile Punkt, an dem ein Therapeut das reden über Erinnerungen zulässt, wird sonst eventuell zur unerreichbaren Hürde, weil es ja genau die Erinnerungen sind, die im Hintergrund wirken und instabil machen.
Wir sehen also keinen Sinn für solche Schweigegebote, finden sie im Gegenteil kontraproduktiv. Passiert ist es uns doch auch und im Kopf haben wir es sowieso. Damit müssen wir jeden Tag klar kommen. Nur weil es in der Therapie nicht sichtbar werden darf, wirkt es in uns doch nicht weniger. Zudem sehen wir es für uns auch als unser gutes Recht, über unsere Geschichte zu sprechen, genau so, wie jeder andere, ja auch einfach über die eigene Geschichte sprechen darf.