Auf verschiedenen Blogs (Birke – Zeitenmosaik, Sophie 0816) habe ich in letzter Zeit etwas zu „The Work“ von der Autorin Byron Katie gelesen. Das hat mich dazu angeregt meine Gedanken zu der Urheberin des Konzeptes zu posten.
Eines vorab: Ich habe selbst nie mit dem Konzept „The Work“ gearbeitet und möchte auch die Wirksamkeit weder bewerten, noch in Frage stellen. Ich kann mir gut vorstellen, dass es sehr hilfreich sein kann Gedankenkreisläufe zu hinterfragen. Das wird in der kognitiven Therapie ja auch gemacht. Die Autorin kenne ich nicht persönlich und weiß nicht mehr als das, was Sie öffentlich über sich erzählt.
Dennoch sei es mir an dieser Stelle erlaubt meine Gedanken offen in den Raum zu stellen, auch wenn ich damit falsch liegen kann. Ihre Geschichte passt meiner Meinung nach gut zum Thema „Dissoziation“.
Byron Katie ist 1943 geboren. Ihre Bücher sind mittlerweile Bestseller. Darin schreibt sie über ein System an Fragen zur Selbsterkenntnis, dass sie von ihren schwerwiegenden psychischen Problemen befreite.
Sie selbst litt Jahrelang unter schweren Depressionen, Selbsthass, starken Ängsten und ging nie ohne einen Revolver unter dem Kissen schlafen. Dazu kam eine starke Essstörung mit Essattacken, die ihr Gewicht in die Höhe trieb. Irgendwann brachte man sie in eine Klinik. Dort hatte das Personal Angst um andere Patienten und ließ sie deshalb in einer Dachkammer schlafen. In diesem Zimmer erlebte sie in einer Nacht ihr „Erleuchtungserlebnis“, dass ihr von heute auf Morgen alle Sorgen und Ängste genommen zu haben scheint. Es sei nicht mehr als das große Nichts geblieben, überschwängliche Freude, die für Jahren anhielt und der Grundgedanke für „The Work“, sagt sie selbst dazu.
Alles paletti – Wunder soll es ja geben.
Ihren Mann und ihre drei Kinder erkennt sie allerdings bis heute seit dieser Nacht nicht mehr. Das erzählt sie in einem Artikel des Engel-Magazins. Ihrer Familie ging es umgekehrt ähnlich. Die Mutter und die Frau, die sie in die Klinik gebracht haben, war plötzlich verschwunden.
Mich machte das beim Lesen stutzig. Die Schilderung ihrer Geschichte lässt mich viel mehr an traumatische Dissoziation denken, als an das so hoch gefeierte „Erleuchtungserlebnis“. Persönlich erwarte ich bei einem derartigen spirituellen Ereignis ein Wunder, das zu Selbsterkenntnis und Heilung führt. Dazu gehört für mich aber auch gleichzeitig die liebevolle Integration der Vergangenheit.
Genau das ist hier nicht passiert. Byron Katie beginnt mit 43 Jahren ein völlig neues Leben, nach einer Nacht, die alles zuvor da gewesene ausradiert.
Sie Dis-tanziert.
Vergleichbare Fälle gibt es auch in Deutschland. Da gibt es etwa im letzten Jahr den Mann, der mit seiner Geschichte durch die Medien geht. Mitte 2017 wird er in der Bahn aufgefunden und erinnert sich an nichts mehr. Ärzte und Polizei wissen nicht, was vorgefallen ist. Sie suchen schließlich auch über die Medien nach seiner Identität. Psychiater stufen den sonst kompetent wirkenden Mann als völlig glaubwürdig ein und stellen die Diagnose der dissoziativen Amnesie.
Trauma unbekannt.
Seine Familie identifiziert ihn schließlich.
Damit ist er längst nicht der einzige.
Der Seelenschutz der Dissoziation krempelt das Leben dieser Menschen um, um in einer Ausweglosen Situation überleben zu können.
In der Geschichte der Autorin spielt im weiteren Verlauf Rationalisieren eine entscheidende Rolle. Ebenfalls eine Form der Dissoziation.
Wenn ich nicht so denken würde, sondern….
…dann würde ich mich auch anders fühlen.
Also ändere ich den Satz in meinem Kopf.
Wenn ich mich anstrenge bessere Gedanken zu haben, dann ist auch die Welt um mich herum gleich viel besser. Ich glaube einfach nicht mehr, dass mir eine bestimmte Situation scheiß Gefühle macht.
Als alleinige dauerhafte Methode führt das eher zum Selbstverlust, als zur Selbsterkenntnis.
Alles ist nur in meinem Kopf real. Wenn ich es nicht wahrhaben will, ist es auch nicht. Inneres victim blaming alla ich suche die Verantwortung für mein Leben nur noch bei mir und sehe mir meine Umgebung nicht mehr an, weil ich manchmal eben doch daran was ändern müsste!?
Auch die negative Außenwelt ist eben von Zeit zu Zeit Realität.
Warum aber interessiert mich das überhaupt?
Ich könnte sagen: „Gut, wenn es Katie einfach wunderbar geht seitdem – Who cares? Wenn das auch noch anderen gut tut – Who cares?“ Andererseits denke ich: „Wenn das was sie lebt Dissoziation ist, verpasst sie verdammt viel und eine falsche, bzw. nicht gestellte Diagnose führt mittlerweile hunderttausende von Lesern ihrer Bücher in die Irre, weil sie unter Umständen auf die gleiche „Erleuchtung“ hoffen.“ So angewandt heilt sie nicht, sie hilft zu dissoziieren.
Die überschwängliche Freude, die sie nach der Nacht in der Klinik beschreibt und das Gefühl, als ob alle Grenzen und Dinge sich auflösen, ist mir nicht minder bekannt. Der Hormoncocktail den Traumata und Trigger bei mir auslösten schaffte das früher oft von heute auf morgen über weite strecken des Alltags. Er ließ mich alle Schrecken für eine gewisse Zeit völlig vergessen. Mir ging es blendend. Ich flog im Überschwang. War ich nun in diesen Phasen erleuchtet, weil ich plötzlich Freude empfinden konnte? Wohl sicher nicht… War ich in diesen Phasen gesund? Wohl auch eher nicht…
Im Grunde macht sie nicht viel anderes, als kognitive Verhaltenstherapie. Sie verkauft es nur besser. Hier stelle ich mir die Frage, ob sich ihre Texte ohne den spirituellen Kram im Hintergrund und die Suggestion von Einfachheit so gut an die Leser bringen lassen würden. Ich denke eher nicht, weil die göttlich abgesegnete Möglichkeit zur Realitätsverdrehung und -flucht dann fehlt. Die Leugnungsscheuklappen fallen aus. Denn Negatives gibt es dann nunmal.
Immer wenn für eine Seite im Leben kein Platz mehr ist, läuft für mich etwas gewaltig schief.
Heilung ist und bleibt harte Arbeit. Da helfen vier Fragen vielleicht manchmal, aber sie streicheln sicher nicht alle Wunden weg. Es ist völlig ok in der Herangehensweise ihrer Bücher hilfreiches zu finden, genauso, wie in anderen Selbsthilfebüchern hilfreiches stecken kann. Allwissend und die einzige Lösung sind sie nicht.
Auf keinem einzigen ihrer Videos auf YouTube macht sie auf mich den Eindruck, in ihrer Mitte zu sein. Ich kann das Leuchten nicht spüren. Für mich wirkt sie aufgesetzt, teils hart, wenig bodenständig. Ihre Augen blicken hinter der Fassade ungreifbar und leer.
Vielleicht empfinden andre da anders.
Ich glaube, dass so einige dissoziative Patienten, die zum ersten Mal den Schrecken, der in ihrem Leben passiert ist benennen und den Mut haben all dem Schmerz in ihnen einen Namen zu geben, näher an sich und damit auch an der „Erleuchtung“ sind, als diese Frau.
Quellen:
– „Ich liebe was ist“, Engelmagazin, Ausgabe Januar/Februar 2018, S. 31;
– https://realization.org/p/byron-katie/massad.byron-katie-interview/massad.byron-katie-interview.1.html
– http://thework.com/en/about-byron-katie
– https://www.mystica.tv/byron-katie_interview/
– https://www.morgenpost.de/vermischtes/article211539507/Wer-ist-der-Mann-ohne-Gedaechtnis.html
– https://www.berliner-zeitung.de/berlin/wer-kennt-diesen-mann–der-mann-ohne-gedaechtnis-10699546