Hab Mut zu sprechen!

In Gruppierungen und organisiertem Verbrechen wird so einiges unternommen, um die Opfer dauerhaft zum Schweigen zu bringen.
Neben Folter und Qual, sind es vor allem auch die Indoktrinierungen und Vorhersagen, was passieren wird, wenn man es dennoch schafft zu sprechen, die Opfer davon abhalten ihr Schweigen zu brechen.
„Dir glaubt sowieso keiner“, „Alle werden sagen, dass du lügst“, „Sie werden dich für verrückt halten“, etc…

Vor zwei Wochen haben wir uns aus einer großen Not heraus einem unserer Lehrer anvertraut.
Haben etwas von der Gewalt erzählt die wir erlebt haben.
Wir bereuen es nicht. Im Gegenteil.
Er ist zu einer großen Hilfe für uns im Schulalltag geworden.
Es entlastet uns zu wissen, dass jemand bescheid weiß, falls etwas wäre und es uns nicht gut geht.
Allein zu spüren, dass er ein Mann ist und dennoch nicht im geringsten daran denken würde einem Kind so etwas anzutun, ist heilsam für uns.
Zudem:
Er glaubt.
Er zweifelt nicht, nennt uns keine Lügnerin und er ist an unserer Seite.
Einfach so.
Mittlerweile weiß noch eine weitere Lehrerin bescheid.
Auch Sie hilft uns sehr.
Auch Sie glaubt.

Zwei Lehrer sind zu wichtigen Säulen in unserem Alltag geworden.
Sie geben uns neben der schulischen Hilfe, die Sicherheit verstanden zu werden, Ansprechpartner zu haben für den Notfall und etwas gesehen zu werden, mit dem was hinter der Funktionierfassade abläuft.
Möglich geworden durch Worte, die wir hörbar haben werden lassen, auch wenn sie nur schwer über unsere Lippen kamen.

Wir sind dankbar dafür!
Es zeigt, dass es sich lohnt, das Schweigen doch an geeigneter Stelle zu brechen.
Die Vorhersagen der Täter sind ein weiteres Mal nicht eingetreten.

Hab Mut zu sprechen, es lohnt sich!
Es sind die Täter, die lügen!

Darüber reden können wir, wenn Sie stabil genug sind…

Aus unseren Therapieversuchen kennen wir Aussagen, wie: „Du darfst jetzt nicht darüber sprechen. Das wäre nicht der richtige Zeitpunkt. Das wäre gerade zu schwer.“
„Für wen?“, wollten wir dann oft gerne nachfragen. „Für uns oder für Sie!?“
Wir dürfen nicht über unsere Vergangenheit sprechen, werden wieder zum Schweigen gezwungen und es wird uns auch noch als Fürsorge verkauft. Dabei hatten wir da nicht selten das Gefühl, dass es eher die Therapeutin ist, die jetzt Angst bekommt, was ihr da so erzählt werden könnte und versucht sich so zu retten.
Es ist ohne Frage nicht sinnvoll tief in die Erinnerungsarbeit einzusteigen, wenn man gefahr läuft dabei wegzudissozieren. Das bringt nicht nur nichts, weil es das Gehirn nicht im Bewusstsein halten und einordnen kann, sondern kann auch retraumatisieren.
Aber grundsätzlich zu verbieten darüber zu reden, bis man völlig stabil ist, ist auch keine Lösung.
Es entmündigt. Es spricht der PatientIn ab, dass sie selber in der Lage ist ihre Grenze einzuschätzen und zu fühlen, was hilfreich ist. Wo kennen wir das gleich nochmal her!? Richtig, von den Tätern.
Wir wären heute sicher schon nicht mehr hier, wenn wir in manchen Situationen nicht einfach mal hätten ausdrücken können, was in unserem Kopf ist. Manchmal war es sogar die letzte Rettung, wenn wir völlig instabil und selbstmordgefährdet waren, weil wir dann das Wirrwarr im Kopf mit unserer Therapeutin zusammen wieder etwas ordnen und schlimmeres verhindern konnten. Weil wir darüber begreifen konnten, warum wir gerade wie reagieren und darüber Lösungen gefunden werden konnten. Drum sind wir dafür, dass auch in frühen Phasen der Therapie Erinnerungsinhalte mit einbezogen werden und der sichere Rahmen für das Gespräch darüber gemeinsam gefunden wird und nicht nach Schema „X“. Der stabile Punkt, an dem ein Therapeut das reden über Erinnerungen zulässt, wird sonst eventuell zur unerreichbaren Hürde, weil es ja genau die Erinnerungen sind, die im Hintergrund wirken und instabil machen.
Wir sehen also keinen Sinn für solche Schweigegebote, finden sie im Gegenteil kontraproduktiv. Passiert ist es uns doch auch und im Kopf haben wir es sowieso. Damit müssen wir jeden Tag klar kommen. Nur weil es in der Therapie nicht sichtbar werden darf, wirkt es in uns doch nicht weniger. Zudem sehen wir es für uns auch als unser gutes Recht, über unsere Geschichte zu sprechen, genau so, wie jeder andere, ja auch einfach über die eigene Geschichte sprechen darf.

Sagen, wer ich wirklich bin

Ich sitze hier und fange an zu tippen.
Seit Tagen gefangen in dichtem Nebel.
Meine Fingerspitzen berühren die Tastatur bevor mein Kopf weiß, worüber ich eigentlich schreiben will.
Erkenntnisse nehmen sich Raum in meinem Inneren. Ich stehe vor Ihnen wie vor uralten, teueren und wichtigen Fundstücken in den Vitrinen eines Museums. Man hat schon oft von Ihnen gehört und man weiß, dass es sie gibt. Manchmal ist man sogar schon an Ihnen vorbeigeschländert und hat sie kurz betrachtet. Sie sind nicht neu entdeckt, aber sie bekommen eine andere Qualität, weil sie nun noch einmal aus einer anderen Perspektive betrachtet werden.
„Man kann wirklich komplett vergessen!“
„Ich habe mich erinnert.“
„Es ist wahr.“
„Sie hat dich nie wirklich geliebt!“
„Er hat es wirklich getan.“

Es sind viele Erkenntnisse, die in den letzten Tagen plötzlich wie Ohrfeigen in mein Bewusstsein steigen.
Das Kind in mir schreit vor Schmerz und ist so froh, dass ich es sehe. Endlich.
Puzzelstücke fügen sich neu zusammen.
Erinnerungen werden in Ihren Zusammenhängen und Auswirkungen klarer.
Schmerz, Traurigkeit und taube Leere erfüllen Körper und Seele.
„Ich kann nicht mehr!“, möchte mein Mund schreien, doch ich kann es nicht mal flüstern.
„Ich kann!“, versuche ich mir klar zu machen.
Und je klarer mir wird, was passiert ist und dass es nicht meine Schuld war und nicht ich mich darfür schämen muss, desto klarer formt sich ein drängendes Bedürfnis:
Ich will darüber reden. Das Schweigen brechen. Nicht nur in der Therapie!
Ich will ich sein. Ganz sein. Indem ich mir den Raum nehme, so zu sein wie ich bin und dazu gehört meine Geschichte.
Wer sie nicht hören will, lehnt mich ab. Sie ist zu groß, macht mich zu sehr aus und beeinflusst mich zu stark, um nur für eine Stunde in der Woche raum zu haben darüber reden zu dürfen. Es muss aufhören, dass wir uns niemals irgendwo wirklich zugehörig fühlen, weil in uns die Angst bleibt: „Wenn Sie wüssten, wer ich, wer wir, wirklich sind, dann wären Sie bestimmt alle weg!“ Es muss aufhören, weil sonst die Spaltung in der realen Welt weiter geht. Wir haben etwas zu sagen und bestimmt hilft das neben uns selbst auch anderen!
Ich weiß noch nicht wie, aber ich werde reden
und die Welt wird mir zuhören!
Ich schaffe das!
Wir schaffen das!