Dissoziation, Nebel und eine Schale voller Nudeln

Ich sitze im Sessel und stochere in meinen Gemüsenudeln. Eigentlich habe ich keinen Hunger. Würde mein Magen nicht von der Leere brennen, hätte ich mir Essen vermutlich einfach ganz gespart. Während die Gabel sich zwischen den Fingern im Kreis dreht und feine Spaghetti zu Miniaturnestern rollt, versinkt die Umgebung jenseits meiner Wahrnehmungswelt. Ich fühle mich, als könnte ich mich selbst im Zimmer beobachten und mir anerkennend auf die Schulter klopfen: „Herzlichen Glückwunsch! Du schaffst es einen Gabel zu drehen.“ Gleichzeitig scheint es, als würden mich dünne neblige Scheiben von allem um mich herum abtrennen. Die Welt da drüben jenseits des Schleiers und ich.

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Ein Wutbrief an die Zweifler

Lieber Zweifler,
Liebe Zweiflerin,
du kannst einfach wegschauen. Die Chance haben die Opfer ritueller Gewalt nicht. Sie müssen mit dem Leben, was ihnen zugestoßen ist. Die Gewalt ist nicht weniger existent, ob du nun dran glaubst oder nicht. Du kommst dadurch auch nicht weniger mit Betroffenen in Kontakt. Tu uns den Gefallen und hör‘ auf schlecht über uns zu reden und unsere Existenz in Frage zu stellen. Das machen wir mit deinem Erleben ja auch nicht. Schließlich müssen wir anerkennen, dass es Menschen gibt, die ein gewisses Sicherheitsgefühl haben, auch wenn sich die Welt für uns ganz anders darstellt. Wir haben alle schon genug ertragen. Lass uns wenigstens in Frieden heilen.

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Das leere Gesicht der Dissoziation

Zustände von Leere begleiten uns durch unser gesamtes Leben. In vielen Situationen waren sie überlebenswichtig. Heute verhindern sie manchmal, dass wir das Leben spüren, wenn sie uns zeigen wie „leer“ unser Leben war.

Ein bisschen stelle ich mir diese absolute Taubheit vor, wie eine alte weise Frau mit einem großen Beutel voller kleiner und größerer Gefäße. In den dunkelsten Stunden setzt sie sich zu uns. Dann nimmt sie mit ihrem Zauber allen Schmerz in ihre Fläschchen und schafft einen Raum der Stille im geschundenen Seelenkörper.

Früher hat Frau Leere uns in todesnahen Momenten oft besucht. Todesnah, das war nicht nur, wenn unser Herz aufhörte zu schlagen. Todesnah waren für das Kind auch die Erlebnisse, in denen seine Seinsberechtigung verbal ausradiert wurde und Situationen in denen es vor lauter Schmerz nicht hätte im Körper bleiben können.
Im Alltag war Frau Leere eine große Hilfe. Ohne sie hätte ich nicht lächelnd zur Schule gehen können. Sie schob mir Boden unter meine Füße und erlaubte es mir in getrennten Welten die jeweils geforderten Höchstleistungen zu bringen.

Heute sitze ich manchmal mit ihr da, starre zum Fenster hinaus oder einfach nur die Wand an. Dann nimmt Frau Leere meine Hand und schenkt mir einen Tropfen des alten Schmerzes zurück. Eine kleine Essenz aus meinem Sein. Plötzlich füllt sich dann der Augenblick mit tränenüberströmten Wunden. An die Stelle der Taubheit tritt zerbersten. Ich fühle mich und die Anderen und das ist schrecklichschön. Dann bleibt mir nur zu atmen. Durch die Schauer hindurch. Bis ich am Ende ein Stück meines Selbst geboren habe und erschöpft in Frau Leeres Arme falle. Meist hat auch sie sich dann verändert. Sie lächelt milde und ist nicht mehr ganz so groß. Vorerst hält sie mir den Rücken frei und lässt mich die Eindrücke verdauen.

Danach beginnt ein neuer Zyklus des uns selbst Gebärens unter dem Schuztmantel der Leere.