Vom Hängen gelassen werden – wenn Gewalt plötzlich die beste Option ist

Es gibt Situationen, da klammern wir uns noch heute an den Aggressor, versuchen sie mit ihm zu klären, statt uns umzudrehen, zu gehen und manche Dinge einfach nicht mit uns machen zu lassen. Ein Konflikt. Wie lösen, wenn der andere erst Grenzen massiv überschreitet, dann blockiert, die Welt verdreht und letztlich schweigt. Ein Schmerz durchfährt uns. Die Wunde sitzt tief und in unserem Kopf wollen alte Bilder neu begriffen werden:

Ich bin ein kleines Mädchen. Meine Beine umklammern mit Vehemenz seine Hüften. Mit aller Kraft ziehe ich mich so eng wie möglich an seinen Körper. Ich bin gebunden – mit Seilen und ich weiß, wenn er loslässt, ist es mit meinem Leben vorbei. Also halte ich ihn, mit allem, was mir noch zur Verfügung steht. Lasse mich vergewaltigen, suche die Nähe aktiv über meine Beine, sorge dafür, dass er bleibt, denn wenn er mich fallen lässt, war es das für mich. Ich werde keinen Boden unter den Füßen finden. Also kläre ich die Situation mit meinem Peiniger und er wird zu meinem Retter in einer Situation, die er eigentlich mit seinem Verhalten erst verursacht hat.

Heute fühle ich mich hängen gelassen. In meiner Not. In meinem Bedürfnis Dinge zusammen zu klären und nicht auseinander zu gehen, wenn es schwierig wird. Die Situation mit einem vermeintlichen Freund läuft in vielen Mustern so parallel zum Damals, dass es mir schwer fällt Unterschiede zu sehen. Ja, im Heute könnte ich gehen. Ich wäre nicht gefesselt und doch habe ich Angst, dass er mich vernichtet, wenn ich loslasse. Dass ich sterbe. Dass der dann einsetzende Schmerz mir das Bewusstsein nimmt.

Manchmal ist Vergewaltigung die bessere Option, als zu sterben oder zumindest auch noch schwere körperliche Blessuren davon zu tragen. Das heißt nicht, dass man möchte, was passiert. Sich als Frau anzubieten, ist nichts wofür man sich in einer Welt schämen muss, die einem jeden Tag vorführt, dass man für seine sexuelle Attraktivität dankbar sein müsste und froh sein kann, wenn der Mann sich den Körper nehmen will. Rückblickend frage ich mich manchmal weshalb ich zu gewissen Tätern immer wieder die Nähe selbst gesucht habe und gebe mir die Verantwortung für das, was passiert ist. Aber ganz ehrlich: Es ist doch auch völlig normal, gesund und verständlich, dass man das „kleinere und besser überlebbare Übel“ wählt und es macht die Vergewaltigung auch nicht weniger traumatisch, wenn man mitgemacht hat. Fakt ist: Es gibt nicht wirklich eine Wahl, sondern das ganze Leben wird im Täterumfeld zum Drahseilakt zwischen Pest und Cholera. Ja, ich wollte vergewaltigt werden und emotional fühle ich das bis heute so. Das war mir lieber, als eine durchgeschnittene Kehle oder an einem Seil von der Decke zu baumeln. Die Verantwortung liegt nicht bei dem, der mit seinem Leben am seidenen Faden hängt, sondern bei dem, der einen dort befestigt hat und droht ihn zu durchtrennen!

Ich spiele immer wieder Beziehungsroulette mit Narzisten. Ich meine immer wieder meine Verwundbarkeit erklären zu müssen, in der Hoffnung meine Grenzen würden dann gesehen und man könne mit dem Gegenüber gemeinsam lösen. Ich will permanent verstehen, warum jemand das macht, weil es früher meine einzige Chance war, die Gewalt zu rechtfertigen und mit ihr empathisch zu interagieren, statt mich noch mehr auszuliefern. Ich will und kann immer wieder nicht sehen, dass mich Menschen bewusst in ungute Situationen bringen, um dann mit meiner Abhängigkeit zu spielen. Ich bin auch heute nicht Schuld an Gewalt, nur weil mein Gegenüber keinerlei Verantwortung übernehmen will und ich darf traurig über die Verletzung sein! Ich kann nur versuchen mein Muster für die Zukunft zu lösen, um mich besser zu schützen und möglichst nicht immer in neue schädliche Situationen zu geraten. Es fällt mir schwer, nicht immer nur das Gute sehen zu wollen, weil ich die pure Liebe so sehr bräuchte und anzuerkennen, dass es nichts an meinem Schmerz ändert, wenn das Gegenüber vielleicht sein Bestes versucht, mich damit aber trotzdem umbringt und sein Verhalten für mich mit meiner Geschichte schädlich ist, weil es Muster auf anderen Ebenen wiederholt. Weil es Grenzen ignoriert. Weil es so tut, als währen meine Grenzen an sich Verletzungen für andere und jedes „Nein“ in einem Konflikt endet, statt es zu akzeptieren. Weil es toxisch auf mein Leben einwirkt und mich Kraft kostet.

Ich versuche ein Resume zu finden – für diesen Beitrag, aus den Erinnerungen von damals, für die Situation im Heute. Das Thema hat im Moment für mich keines. Es liegt offen und Wund vor mir und wenn ich überhaupt eines sagen kann, dann, dass ich so nicht behandelt werden möchte und Zeit für mich brauche. Schmerzwellen überlaufen mich und mantrenartig skandiere ich gegen sie vor mich hin: Ich bin nicht Schuld. Ich wollte das nicht. Ich darf verletzt sein. Es ist ok Grenzen zu haben. Sie werden mich nicht umbringen. Heute nicht. Ich werde es ohne ihn schaffen und mich lösen. Aus den Fesseln. Im damals und im Heute.

3 Kommentare zu “Vom Hängen gelassen werden – wenn Gewalt plötzlich die beste Option ist

  1. Hallo Sofie,

    zu lesen, was Dir widerfahren ist, schmerzt; zu lesen, wie Du damit haderst, ist quälend, und dennoch für viele Menschen, die das Glück hatten, problemlos durch das Leben zu gleiten eine wichtige Information. Ich hoffe, drei zusätzliche Aspekte skizzieren zu dürfen.

    Was Du beschrieben hast, ist gewiß auch für Täterinnen und Täter ohne brutale körperliche Gewaltanwendung durchsetzbar, allein auf dem Wege raffinierter psychischer Gewalt.

    Meinem, allerdings fragmentarischen Einblick in die „Opferforschung“ nach ist bei nahezu allen Opfern ein natürlicher Reflex, die Verantwortung für das Geschehen sich selbst aufzubürden. Eine Falle, aus der Opfer eventuell rational noch vergleichsweise einfach entkommen, emotional allerdings nur mühsamst, wenn überhaupt. Beispielsweise beschreibt Marie-France Hirigoyen diese Tendenz ausführlich.

    Eine schlimme Bürde, die Opfer anscheinend für den Rest ihres Lebens mit sich schleppen, scheint mir zu sein, für Täterinnen/Täter mühelos erkennbar zu sein; doch nicht allein für diese Personengruppe. Ich vermute, dass eine gar nicht so geringe Anzahl zweifelhafter Kreaturen unterwegs ist, die ebenfalls Opfer erkennen und durch deren – ich beschreibe es so – Schwachpunkt sich „herausgefordert“ sehen, tätig zu werden. Ich glaube, als Opfer darf man das niemals aus dem Auge verlieren. Wer weiß, wem man beim Discounter begegnet?

    Eventuell ist die Vergegenwärtigung dieser Aspekte schon ein Schlüssel, dem Verhängnis besser vorbereitet zu begegnen.

    Grüße E.M.

  2. Hallo Sofie,

    ich fühle mit, ich kenne all das. Die Spielchen, die Verletzungen die nach außen nicht sichtbar sind, das sich selbst Schuld geben, die Scham, das sich einreden, dass der andere das bestimmt anders gemeint hat usw.

    Innere Schmerzen, die sich schwer fassen lassen.

    Hallo E.M. dass Täter überall lauern (können) wissen die meisten, die solch psychische Gewalt erlebt haben und ich glaube deswegen gibt es das Hyperarousal bei PTBS, daher kommt das: dieses mal erkenn ich den Täter gleich/noch rechtzeitig, dieses mal bin ich gewappnet. Das ergibt eine ständige Anspannung bis generalisierte Angststörung Panikattacken.

    Hilfreich hier, wie sooft: Selbstwert erhöhen, sichere Plätze einüben (innerlichen und äußerlichen), Sport (bessere Körperspannung, mehr Energie, das Gefühl ich kann mich wehren, bessere Haltung usw.). An seiner Aggressivität arbeiten und zwar, dass sie DA sein darf, ja muss!!!

    viele Grüße

    • Hallo laluna80,

      eben habe ich Deine Gedanken zu meinem Kommentar gelesen, die mich nochmals intensiv nachdenken lassen über die angesprochenen Aspekte.

      Spontan erwidere ich Dir: unsere Beiträge spiegeln – wie könnte es auch anders sein – unterschiedliche Erfahrungen und unterschiedliche Verarbeitungsstrategien wider.

      Worauf ich mit dieser Anmerkung abziele, kann ich hier nicht im Detail skizzieren, obschon ich das Thema gerne vertiefen würde.

      Grüße E.M.

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