Faulheit oder Depression

Ich sitze auf meinem Bett und starre aus dem Fenster. Auf meiner Lippe klebt ein frisches Blatt Melisse. Kleine herpesartige Bläschen schmerzen auf der Schleimhaut. Ich hoffe, dass das Pflanzenpflaster die Verursacher möglichst schnell umhaut. Der Stress der letzten Wochen war zu viel. Mein Immunsystem ist an vielen Stellen angeschlagen. Alles in uns ist erschöpft. Mir fehlt die Konzentration, um sinnvoll länger bei einem Thema zu bleiben. Entsprechend schweife ich in der Welt umher.

Funktionalität versucht mein Gehirn zu stabilisieren. Dabei sitzt mir die Trauer und der Schmerz wie ein Elefant auf der Brust. Meine bisherige Beschäftigung musste ich aufgeben. Das Pensum können wir derzeit nicht leisten. Vielleicht irgendwann wieder, aber nicht jetzt. „Versager,“ denke ich, obwohl ich weiß, dass ich schwer krank bin und einfach nicht kann. Unsere depressiven Episoden heißen erst seit einigen Jahren so. Bis dahin wurden sie von meinen Bezugspersonen schlicht mit „Faulheit“ und „Mangel an Disziplin“ beschrieben. Ohne es zu wollen, ist dieses Denkmuster immer noch der tiefere Maßstab in meinem Wertesystem. Da nützt es nichts, inzwischen kognitiv mehr zu wissen. Mir fehlt ein innerer Vergleichskompass. Zwar höre ich die Einschätzungen der Fachärzte und Therapeuten zu unserem Zustand, aber ich kann ihn nicht empfinden. Wann ist man faul und wann kann man wirklich nicht!? Wann muss man eine Angst einfach überwinden und etwas durchziehen und wann darf man sich aus der Schusslinie bringen?

Besonders schwierig finde ich die Kombination von Depression und Dissoziation. Das führt für mich als Alltagsperson nämlich oft dazu, dass meine Depression dermaßen distanziert von mir daher kommt, dass ich selbst das Gefühle habe, ich könnte doch, wenn ich nur wollte. So schlimm ist das alles doch eigentlich gar nicht. Gut, ich kann morgens zwar nicht mehr aufstehen, der Körper schmerzt vor Erschöpfung, die Gedanken kreisen 24h  um Suizid, aber was soll‘s!? Trotzdem aufstehen, funktionieren, abspalten und alleine in den eigenen vier Wänden abends wieder zusammenbrechen. In der Vergangenheit bestand die Gefahr, dass ich das genau solange in der Form praktiziere, bis ich mir aus einem Impuls heraus vor lauter Druck tatsächlich etwas antat, weil ich viel zu lange über sämtliche meiner Grenzen ging. Ich empfand diese Suzidimpulse immer aus dem nichts kommend, was sie bei genauerer Betrachtung nicht waren. „Huch, jetzt habe ich mich umgebracht, weil ich es nicht mehr ertragen habe und weiß gar nicht weshalb“, hätte ein gutes Zitat von mir zu diesen Zuständen sein können. Inzwischen versuche ich dem vorzubauen. Früher Stopp zu sagen. Mir mehr Pausen zu gönnen. Das führt aber auch dazu, dass mein Leistungspensum rapide abgenommen hat. Ich bin traurig, denn ich würde gerne mehr tun, kann aber nicht.

In mir sind so viele Tränen und ein bisschen Hoffnung, dass irgendwann vielleicht auch etwas ganz schönes aus dieser Krise wächst. Vielleicht finden wir ja ein Stück von uns selbst und werden irgendwann etwas tun, wovon wir vorher nie zu Träumen gewagt hätten. 

21 Kommentare zu “Faulheit oder Depression

  1. Liebe Sofie,
    ich finde kaum Worte, möchte dirch einfach mal ganz lieb und vorsichtig in den Arm nehmen, wenn dir das recht ist.##
    Ich schicke dir ein wenig Kraft,
    Silvia

    • Hallo Silvia,
      vielen lieben Dank! 😊
      In dem ganzen Stress der letzten Wochen haben wir euch auch lange nicht mehr gehört. Umso schöner heute hier von euch zu lesen! Wir hoffen ihr seid soweit wohl auf?

      Ganz liebe Grüße,
      Sofie

  2. Liebe Sofie und bunte Schmetterlinge,
    Es ist so lieb, dass du versuchst uns zu helfen, dabei ist es gerade bei euch auch ganz schwierig.

    Wir schicken euch ganz viel Kraft und Ruhe um von dem Stress loszukommen. ….. Wir reichen euch auch gerne eine Hand zum halten wenn ihr wollt. Dann ist uns auch gleich geholfen. 😉
    Von Herzen alles Liebe 💖🏵️🍀
    „Benita“

  3. Liebe Sofies!
    Hier ein paar Gedanken von uns zu eurem Post:
    Wir sind alle so auf funktionieren getrimmt, dass es Chaos in uns auslöst, wenn wir nicht mehr können und dann krampfhaft versuchen, doch noch irgendwie zu funktionieren. Koste es was es wolle! Wir sind so, auch von der Außenwelt, von nicht Täter*innen darauf getrimmt, dass wir unsere Ängste überwinden müssen, unsere depressiven Phassen…. Koste es was es wolle! Das Leben ist schön! Begreift es endlich! Aber unser aller Leben war nicht schön! Die Verletzungen die hinterlassen wurden können wir nicht einfach wegdenken! Das geht einfach nicht!!! Wir selber merken wie viel wir schaffen! Aber nur mit dem nötigen Fundament an Unterstützung! Sonst geht es einfach nicht! Wir werden niemals so sein wie manche Unos uns gerne haben wollen! Aber wir können eins erreichen, wenn wir die nötige Unterstützung und das nötige Fundament unter die Füße kriegen: nämlich zu leben! Das braucht viel Zeit und Geduld und Einfühlungsvermögen von seitens der Unos und von uns selbst. Wir können das nicht auf Knopfdruck und es braucht vielleicht viele Jahre. Die Geduld dazu müssen wir von den Bezugspersonenunos einfach erwarten können! Sonst funktioniert es nicht! Lasst euch nicht unter Druck setzen. Herzlich grüßen euch die Sunnies

    • Vielen lieben Dank für euere Worte!
      Wir haben beim Lesen so oft „Oh, ja! Genau so ist es!“ gedacht. Es ist schön, wenn ihr Menschen in euerer Nähe habt, die euch etwas davon zeigen und es war eine gute Anregung uns in der gedanklichen Auseinandersetzung vielleicht auch besser wieder auf die Unterstützerinnen zu beschränken.

      Ganz liebe Grüße,
      Sofie 😊

  4. Ich glaube, dass Depressionen grundsätzlich nur von Menschen wirklich VERSTANDEN werden, die selbst entsprechende Erfahrungen gemacht haben. Leider.

    Die Kombination mit Dissoziation muss geradezu bizarr sein, ich kann nur ahnen wie schwer das „händelbar“ ist.

    Verurteilt Euch dennoch, bitte, nicht. Es ist kein „Versagen“, wenn ihr gefühlt viele Kämpfe verliert. Dafür ist jeder kleine Sieg ein riesiger Erfolg. Und das bleibt er auch dann, wenn wieder und wieder schwere Zeiten folgen.

    Mein „Rucksack“ ist nicht so schwer wie der Eurioge, aber auch ich weiß, was es bedeutet einen tragen zu müssen, ihn nicht (wieder) loszuwerden.

    Ich schätze Euch, ich mag Euch, ich achte Euch – Ihr kämpft so sehr. Ich SEHE, SPÜRE das.

    Ich lasse Euch meine Schulter zum Anlehnen hier und ein bisschen Seele von mir. Sie begleitet Euch, wenn ihr an sie denkt, seid ihr nicht allein!

    Liebe Grüße, Ihr Schmetterlinge! 💚🌻

    • Ach Sternenflüsterer, was im Rucksack drin ist, ist letztlich völlig egal, wenn er zu schwer ist… Wir müssen mal gemeinsam umpacken. Sowas wie „Ich packe meinen Koffer“ für verletzte Seelen. 😉

      Vielen Dank für deine lieben Worte, die Krafttankstellen zwischen deinen Zeilen und die netten Bilder!

      Liebe Grüße,
      Sofie 🦋

  5. *WOW*

    Ihr schreibt uns gerade direkt aus ♡ und Seele heraus…! SO ist es gerade auch bei uns…

    Faul? Na klar – nur faul und undiszipliniert! Das wir wie eine Oma keuchen, weil wir nur einen Wäschekorb eine Etage rauf getragen haben… Der Körper macht schlapp. Aufstehen…? Essen…? Trinken…?
    Kraft, Energie, Willen, Lebensmut, Struktur – alles nimmt dieser momentane Sch**sszustand uns weg! Sogar die Luft zum Atmen…

    *puh* *handreich*

    Matte Grüße aus der Himbeersplitterei

    • Herrje! Ich würde mir ja wünschen, dass bei euch die Lebensfreude tobt. 😊

      Wir finden es grade in den letzten Tagen immer wieder krass zu bemerken, wie sehr die Psyche den Körper lahm legt. Deine Zeilen haben mich erinnert, dass ich letzte Woche fast daran Verzweifelt wäre, weil ich eine harmlose kurze Treppe vor Erschöpfung nicht mehr steigen konnte. Ich fühle mich derzeit gelenkig wie eine Mumie. 🙄😉

      Ganz herzliche Grüße und viel Kraft!
      Sofie

  6. Trauma kostet unglaublich viel Kraft. Was ihr leistet, das leistet nicht mal ein Akkordarbeiter!
    Das ist definitiv keine Faulheit!
    Aber wir wissen genau wovon ihr redet, kennen wir zu gut. Was man kognitiv weiß und was man fühlt, was andere Menschen eventuell denken könnten (was euch eigentlich egal sein sollte, aber ich weiß es ja selbst, ist es nicht) oder was in einem selbst an Stimmen laut wird – das sind leider 2 verschiedene Paar Schuhe.
    Selbst wenn andere sagen, man sei nicht faul, kann man es nicht glauben/annehmen, auch wenn man weiß dass es so ist, das eingeprägte ist stärker…

    Und trotzdem, lasst euch von uns sagen, ihr seid okay, wie ihr seid. Und es ist schon eine krasse Leistung von euch, dass ihr den Suizid nicht vollzieht. Vertraut eurem Körper, der wegen der Psyche ebenfalls am Abgrund ist, er lügt nicht, es ist wirklich eine „Erkrankung“ (Gewalt Folgen halt, für mich ist es nicht wirklich eine Krankheit, sondern die perfekte Anpassung an diese Gewalt…)

    Euch die Hand reicht ♥️

  7. Ich danke dir für deine Worte auch wenn sie so schmerzhaft klingen. Das Problem zwischen „Faulheit“ und „nicht können“ hast du so schön beschrieben. Mein Freund leidet an Depressionen und es ist für mich von außen so schwer zu unterscheiden, was was ist. Da er so oft sagt, dass er ja will und trotzdem nichts passiert, habe ich für mich angenommen, dass es vermutlich das „nicht können“ ist. Aber er selbst hat das für sich auch (noch) nicht annehmen können. Auch wenn das mit deiner Situation nicht so viel zutun, ich wollte nur Danke sagen für den Einblick und den Gedankenanstoß. Dass dieser eigene Gedanke der Faulheit daraus resultiert, dass einem das immer gesagt wurde, ist mir noch nie gekommen, ergibt aber Sinn. Bei allem Schmerz tut es immer gut, zu wissen und zu verstehen und zu lernen. Ich danke dir/euch für die Offenheit und wünsche euch alles Gute!

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